Sachsen
Merken

Alle haben ein Leben nach der Flucht verdient

Deutschland erweist Geflüchteten aus der Ukraine schnelle, zielorientierte Hilfe. Das ist wichtig und richtig, aber muss endlich für alle Mindeststandard sein. Ein Leitartikel.

Von Franziska Klemenz
 4 Min.
Teilen
Folgen
Deutschland hat gut 270.000 Ukrainerinnen und Ukrainer registriert; eingereist dürften weit mehr sein.
Deutschland hat gut 270.000 Ukrainerinnen und Ukrainer registriert; eingereist dürften weit mehr sein. © dpa/SZ

Stell dir vor, es ist Krieg und Deutschland sieht hin. Der Rentner fragt seine Genossenschaft nach Wohnungen für Geflüchtete, das Konferenzhotel hält Zimmer frei, die Schule richtet Ukrainisch-Klassen ein. Halbwegs menschenwürdig empfängt Deutschland die Vertriebenen von Putins Ukraine-Krieg, löst viel Notwendiges einfach und schnell: Arbeitsverträge, Sport- und Sprachkurse, zweisprachige Behörden-Formulare. Sogar flexible Fristen räumen Ämter ein.

Das alles sollte selbstverständlich sein. Menschen, die Krieg entfliehen mussten, tragen kaum mehr als Trauma im Gepäck. Bomben haben ihre Welt gefressen, speien Blut und Trümmer aus. Mehr als vier Millionen flüchteten bislang, meist nach Polen und zu anderen Nachbarn.

Deutschland hat gut 270.000 Ukrainerinnen und Ukrainer registriert; eingereist dürften weit mehr sein. In Sachsen rechnet Ministerpräsident Michael Kretschmer mit bis zu 80.000, lädt sogar ein: „Kommen Sie nach Deutschland.“

Sachsen-erfahrene Flüchtlinge verwundern diese Worte. Laut schlug das freistaatliche Herz bislang nicht für sie, erst kürzlich forderte Christdemokrat Kretschmer Mauern und Zäune an EU-Außengrenzen.

Nicht nur vom rechtsextremen Rand des Parlaments, auch aus der CDU wabern seit Jahren Abschottungs-Fantasien und Vorurteils-Getratsche. Sachsens selbst ernannte Bürger krönen die Feindseligkeit 2015: Gerade haben Syrerinnen Putins Luftangriffe überlebt, in Sachsen wirbeln Fackeln, Flaschen, Molotowcocktails durch tiefdunkle Nächte.

Mehr als eine Million Geflüchtete registriert die Bundesrepublik 2015; die größte Gruppe aus Syrien, gefolgt von Albanien, Kosovo, Afghanistan, Irak. Nach Sachsen kommen knapp 70.000. Monate, teils Jahre müssen sie in Erstaufnahme-Anlagen verharren; zusammengedrängt, abgeschottet, isoliert vom Rest der Welt.

Ohne Privatsphäre, Perspektiven, Pässe – die mussten sie abgeben. Was ihnen bleibt, ist Warten. Auf Sprachkurse, Verfahren, Termine. Nicht gläserne Decken, sondern stählerne Wände trennen sie von Deutschen. Treffen in der Freizeit gibt es kaum, Freundschaften bleiben unwahrscheinlich. Arbeiten, umziehen, lernen – vielen bleibt das alles verwehrt, oft länger als ein Jahr.

"Kreativität, Perspektiven, Plätze; nicht Paragrafen und Vorschriften"

Sie irren so lange durch den Bürokratie-Dschungel, dass sie stürzen und aufgeben. Die Lehrerin aus Afghanistan, die nicht detailtreu in deutsche Schablonen passt, folglich beim Hauptschulabschluss anfangen muss. Die Zahnärztin aus Syrien, die keine Betreuung für ihre Kinder findet, Sprachkurse nur ohne sie und deshalb nicht besuchen kann.

Auch vor 2022 haben viele in Sachsen und Deutschland sich für Geflüchtete engagiert. Not können sie aber oft nur lindern, müssen selbst Willigsten beim strukturellen Scheitern zusehen. Generationen nach der Gastarbeiter-Welle weigert Deutschland sich noch immer, Einwanderungsland zu sein.

Jene, die seit Jahren unter der Ablehnungs-Mentalität leiden, erleben jetzt ein anderes Gesicht. Doch nur entfernt. Es gilt nicht ihnen, sondern Menschen mit weißer Haut, örtlicher Nähe, ukrainischem Pass – viele zuvor Geflüchtete entsprechen diesen Eigenschaften nicht.

Der Staat kippt Regeln, öffnet Schranken, entschleiert Wege, die er lang als unpassierbar abgetan hat. Möglich ist das alles auch, weil die EU die „Massenzustrom-Richtlinie“ für ukrainische Geflüchtete aktiviert hat. In Deutschland durchlaufen sie infolgedessen kein langwieriges Asylverfahren, das vor Behördenballast tropft, sondern erhalten „vorübergehenden Schutz“, einen Aufenthaltsstatus.

Aber Deutschland braucht nicht die EU, um Verfahren zu beschleunigen. Sachsen braucht nicht den Bund, um sich zu mühen. Wer Not und Elend überholen will, braucht rasche, zielorientierte Hilfe. Kreativität, Perspektiven, Plätze; nicht Paragrafen und Vorschriften.

Mit dieser Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine erleben wir gerade richtigen, wichtigen Mindeststandard. Das zeigt, dass Staat und Gesellschaft durchaus können. Deutschland wollte bislang nur nicht, maß Menschen keine gleichen Rechte bei, teilte sie in Klassen ein.

Kürzlich schwärmte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, dass Geflohene aus der Ukraine zuerst nach Arbeit, nicht nach Leistungen fragten. Das tun auch andere, sie dürfen anfangs schlicht nicht arbeiten. Ob Ignoranz, Gedankenlosigkeit oder Unwissen aus der Sozialdemokratin spricht – es ist rassistisch und verletzend. Giffey lobt und beleidigt, spaltet, statt zu integrieren.

Alle Geflüchteten brauchen jetzt und künftig Sprachkurs, Wohnung, Arbeit, Schul- und Ausbildungsplatz. Patinnen, die sie ins neue Leben führen. Bislang zählt Deutschland gern auf schlecht und unbezahltes Engagement, koordiniert es oft nicht mal. Wir müssen einsehen, dass Integration kein Projekt ist, sondern humanitäre Pflicht. Ihr will sich Deutschland annehmen, ein herzliches Gesicht auflegen.

Glaubwürdig sind Empathie und Solidarität erst, wenn alle, die ihr Leben außer Gefahr bringen wollen, ins gleiche Antlitz blicken. Ganz egal, welche Nationalität in ihrem Pass zu lesen ist. Die Zeit angeblicher Unmöglichkeiten ist vorbei. Keine Ausflüchte, nur noch Lösungen. Stell dir vor, es ist Krieg, Deutschland sieht hin – und lässt die Augen auf.