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Was der Angriff auf die Ukraine mit Stalin und Hitler zu tun hat

Russlands Angriff auf die Ukraine wurde von einem revisionistisch-imperialen Geschichtsbild vorbereitet. Ein Gastbeitrag des Dresdner Historikers Ingo Kolboom.

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Am 23. Februar, dem „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“, huldigen in Moskau Anhänger der kommunistischen Partei dem Diktator Stalin.
Am 23. Februar, dem „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“, huldigen in Moskau Anhänger der kommunistischen Partei dem Diktator Stalin. © Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

Von Ingo Kolboom

Präsident Wladimir Putin sagte in seiner Rede an die Nation am 21. Februar dieses Jahres: „Die Ukraine ist ... bis auf das Niveau einer Kolonie mit einem Marionetten-Regime gebracht worden. … Ich möchte nochmals betonen, dass die Ukraine für uns nicht nur ein Nachbarland ist. Sie ist ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unserer Religion. … Eine stabile Staatlichkeit hat sich in der Ukraine nie herausgebildet.“

W. M. Molotow, Außenminister der UdSSR, sagte vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939: „Es genügte jedoch ein kurzer Schlag gegen Polen, geführt zunächst von der deutschen Armee und danach von der Roten Armee, damit von diesem missgestalteten Geschöpf des Versailler Vertrags, das von der Unterjochung der nichtpolnischen Nationalitäten lebte, nichts übrig blieb.“

Und im Gesangsauftritt des Kommandeurs Nikolai Romaneo im Moskauer Luschniki-Stadion am 23. Februar heißt es: „Ich habe keine Angst, mir die Hände blutig zu machen. Es ist Krieg und wir haben ihn nicht begonnen, aber wir werden ihn beenden. Die leuchtend rote Flagge wird über Berlin wehen.“

Der von Putin orchestrierte russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde propagandistisch von einem revisionistisch-imperialen Geschichtsbild vorbereitet und begleitet, welches der Ukraine das Recht auf Souveränität und territoriale Integrität abspricht. Dazu gesellt sich ein aggressives Feindbildnarrativ, das der Ukraine eine auszumerzende „faschistische“ Führungsclique unterstellt und den Angriff damit mit der identitätsstiftenden Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg verkoppelt.

Unheilvolle Tradition

Durch diesen Rechtfertigungsdiskurs wird eine unheilvolle Tradition wiederbelebt, die einst ein Land wie Polen von der Landkarte fegte und daher gerade hier immer noch schlimmste Erinnerungen wachruft. Auf paradoxe Weise verbanden sich Ende der 1930er-Jahre ausgerechnet der Führer des faschistischen Deutschlands und Stalin, der in Moskau ansässige oberste Führer der bis 1939 antifaschistischen Kommunistischen Internationale in dem Willen, dem gemeinsamen polnischen Nachbarn das Recht auf jegliche Souveränität und territoriale Integrität abzusprechen – was beide dann auch nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 24. August 1939 mit dem geheimen Zusatzprotokoll zur Festlegung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa in die Wege leiteten.

Die Wehrmacht marschierte am 1. September vom Westen her in Polen ein, womit der Beginn des Zweiten Weltkriegs später auf dieses Datum gesetzt werden sollte. Die Rote Armee folgte am 17. September vom Osten her. Mit einem Freundschafts- und Grenzvertrag bestätigten sich beide am 28. September ihre Beute. Die heuchlerische Rechtfertigung seitens Hitlers für den Angriff gegen Polen – „wir schießen nur zurück“ – ist bekannt. Noch in dem offiziellen deutschen Kalender „Merkbuch 1945“ ist das Datum 1. September mit dem Vermerk „1939 Deutscher Gegenangriff in Polen“ versehen.

Der "Große Vaterländische Krieg"

Dass die alte Sowjetunion und das spätere Russland Probleme damit hatten, ihren „Großen Vaterländischen Krieg“ in diese Kriegschronologie einzubringen, wozu noch der sowjetische Angriff auf Finnland am 30. November zu zählen wäre, dürfte um so besser nachvollziehbar sein, wenn man sich die – der späteren Nachwelt natürlich vorenthaltene – Rede des damaligen Außenministers der UdSSR, W. M. Molotow, vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939 zu Gemüte führt.

Das in dieser Rede entwickelte Narrativ, um die Zerstörung und Aufteilung Polens zu rechtfertigen, ist von beklemmender Aktualität, wenn man sie auf die gegenwärtige Situation der Ukraine überträgt. Die Rede selbst, in der Molotow sich unter anderem darüber mokiert, wie „die regierenden Kreise Englands und Frankreichs (sich bemühen), sich als Kämpfer für die demokratischen Rechte der Völker gegen den Hitlerismus auszugeben“, ist von beträchtlicher Länge und verdiente einen völligen Abdruck, was hier nicht möglich ist. Doch lassen wir im Folgenden einfach einige Sätze, die Polen betreffen, für sich sprechen:

„Genossen Deputierte! In den beiden letzten Monaten sind in der internationalen Situation wichtige Änderungen eingetreten. (…) Erstens muss auf die Änderungen hingewiesen werden, die in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland eingetreten sind. Seit dem Abschluss des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakts vom 23. August wurde den nicht normalen Beziehungen, die während einer Reihe von Jahren zwischen der Sowjetunion und Deutschland bestanden hatten, ein Ende gesetzt. An die Stelle der Feindschaft, die von Seiten einiger europäischer Mächte in jeder Weise geschürt wurde, ist eine Annäherung, ist die Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland getreten. Die weitere Verbesserung dieser neuen guten Beziehungen fand ihren Ausdruck in dem deutsch-sowjetischen Vertrag über Freundschaft und über die Grenze zwischen der UdSSR und Deutschland, der am 28. September in Moskau unterzeichnet worden ist. (…)

Hierbei bestätigten die Ereignisse in vollem Umfang jene Einschätzung der politischen Bedeutung der sowjetisch-deutschen Annäherung, die auf der vorigen Tagung des Obersten Sowjets gegeben wurde. Zweitens muss auf die Tatsache verwiesen werden, dass Polen militärisch zertrümmert worden, dass der polnische Staat zerfallen ist. Die regierenden Kreise Polens brüsteten sich nicht wenig mit der ,Stabilität‘ ihres Staats und der ,Macht‘ ihrer Armee. Es genügte jedoch ein kurzer Schlag gegen Polen, geführt zunächst von der deutschen Armee und danach von der Roten Armee, damit von diesem missgestalteten Geschöpf des Versailler Vertrags, das von der Unterjochung der nichtpolnischen Nationalitäten lebte, nichts übrigblieb. Die ,traditionelle Politik‘, prinzipienlos zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu lavieren und zu spielen, erwies sich als haltlos und erlitt einen vollständigen Bankrott. (…)

Der Krieg zwischen Deutschland und Polen wurde infolge des vollständigen Bankrotts der polnischen Machthaber rasch beendet. Bekanntlich haben weder die englischen noch die französischen Garantien Polen geholfen. Bisher ist es ja eigentlich auch unbekannt, was für ,Garantien‘ das denn nun waren. (Protokoll vermerkt allgemeine Heiterkeit).“

Erinnerung als Teil der Versöhnung

Die Gräueltaten, mit der die deutschen Truppen ihren Teil Polens überzogen, haben sich auch in unser Gedächtnis eingebrannt, und die Erinnerung daran ist Teil unserer Versöhnungspolitik mit dem heutigen Polen. Um dem Vorwurf einer billigen Aufrechnung zu entgehen, sei auf entsprechende polnische Quellen verwiesen, die an das erinnern, was sich nach dem 17. September im sowjetisch besetzten Teil des damaligen Polens abspielte. In seinem historischen Essay „Polen im zwanzigsten Jahrhundert“ schrieb Adam Krzemiński 1993: „Beide Teilungsmächte stimmten ihre ‚Polenpolitik‘ eng miteinander ab. Im März 1940 – ein bezeichnendes Datum – fand in Zakopane die erste Konferenz von Gestapo und NKWD zur gemeinsamen Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung statt.“

Diese „Zusammenarbeit“ fand erst ein jähes Ende, als am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion der Freund plötzlich wieder zum Feind wurde. Wenn nun wieder am 9. Mai in Moskau der Sieg über den Faschismus gefeiert wird – und damit auch ein Sieg über die „faschistische“ Ukraine eingefordert wird, dann wäre es nicht abwegig, gerade in diesen Wochen an den etwas komplexen Beginn des Zweiten Weltkriegs zu erinnern.

Wie sagte Molotow noch 1939: „Daher ist es nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg für die ‚Vernichtung des Hitlerismus‘ zu führen, einen Krieg, der drapiert wird mit der falschen Flagge eines Kampfes für die ‚Demokratie‘.“ In Polen und in der Ukraine hat man dies nicht vergessen. In Finnland sicher auch nicht.

Übrigens: Als am 15. März 1939 deutsche Truppen ohne Kriegserklärung in Prag einmarschierten, berief sich laut Akten zur deutschen auswärtigen Politik die deutsche Regierung auf die mangelnde öffentliche Ordnung in der Tschechoslowakei.

Dieser Beitrag ist eine leicht veränderte Version eines Textes, der erstveröffentlicht wurde in der Leipziger Zeitung. Wir danken für die freundliche Genehmigung der Weiterverwendung.