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Einflüsterer, Loyalisten, Verschwundene: Wer gehört zu Putins engstem Kreis?

Der Geheimdienstchef fällt in Ungnade, ein langjähriger Vertrauter kehrt zurück. Wer spielt im System des russischen Präsidenten welche Rolle – und wer keine mehr?

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Wladimir Putin und seine Clique – ein Überblick
Wladimir Putin und seine Clique – ein Überblick © Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Von Frank Herold

Seit einem Monat herrscht Krieg in der Ukraine – und der Kreml hat keines seiner strategischen Ziele erreicht. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu war mehr als zwei Wochen lang nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Erst an diesem Samstag ist er in einem von seinem Ministerium veröffentlichten Video zu sehen, wie er eine Armeesitzung leitete und über Waffenlieferungen spricht. Putin-Berater Anatoli Tschubais hat in dieser Woche sein Amt niedergelegt und sich offenbar ins Ausland abgesetzt.

Alexander Bortnikow, Chef des Geheimdienstes FSB soll wegen der Fehleinschätzung der Stimmung in der Ukraine, die seine Behörde geliefert hat, angeblich bei Präsident Wladimir Putin in Ungnade gefallen sein. Der wiederum hat gerade Zentralbankchefin Elwira Nabiullina für eine dritte Amtszeit nominiert, dabei soll sie nach Informationen der Wirtschaftsagentur Bloomberg bei Kriegsbeginn ihren Rücktritt angeboten haben. Beobachter vermuten wegen alldem Risse in der russischen Machtstruktur. Trifft das zu?

Auf wen stützt sich Putin derzeit?

Zu seinem inneren Kreis gehört vor allem wieder sein langjähriger Vertrauter Dmitri Medwedew. Als der frühere Präsident vor gut zwei Jahren seinen Posten als Regierungschef verlor und zum Stellvertreter Putins im Nationalen Sicherheitsrat wurde, galt das als eine Herabstufung. Tatsächlich war von Medwedew bis zur Sitzung des Sicherheitsrates kurz vor Kriegsbeginn wenig zu hören. Inzwischen scheint er für die Signale an den Westen zuständig, es könne alles noch sehr viel schlimmer kommen. "Medwedew wiederholt die Rhetorik Putins und spitzt sie mit Blick auf einen möglichen Atomwaffeneinsatz zu", sagte Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse.

Medwedew hatte am vergangenen Mittwoch vor einer atomaren Katastrophe für die Welt gewarnt.
Medwedew hatte am vergangenen Mittwoch vor einer atomaren Katastrophe für die Welt gewarnt. © Yekaterina Shtukina/Pool Sputnik Government/AP/dpa

Die Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin meint, Putin versuche über Medwedew die Wirkung seiner Drohungen auf den Westen auszutesten. Medwedew hatte am vergangenen Mittwoch vor einer atomaren Katastrophe für die Welt gewarnt, sollte der Westen mit der von ihm so bezeichneten Verschwörung zur Zerstörung Russlands fortfahren.

Keiner verkörpere Putins großrussischen Anspruch wie Lawrow

Vor allem Außenminister Sergej Lawrow, gerade 72 Jahre alt geworden, hatte zu Beginn des Krieges die Funktion, den Westen davon zu überzeugen, dass Strafmaßnahmen gegen Russland wegen des Ukraine-Krieges die Konfrontation verschärfen würden – was dem Westen aus seiner Sicht mehr schaden werde als Moskau. Russland verfolge nur seine legitimen, nationalen Interessen, behauptete Lawrow. Keiner verkörpere Putins großrussischen Anspruch nach außen so konsequent wie Lawrow, schrieb die Neue Zürcher Zeitung kürzlich: "Er hat sein Schicksal ganz mit dem seines Dienstherrn verknüpft."

Sergej Lawrow sprach mit Blick auf die Sanktionen von einem gegen Moskau gerichteten "totalen Krieg".
Sergej Lawrow sprach mit Blick auf die Sanktionen von einem gegen Moskau gerichteten "totalen Krieg". © Evgenia Novozhenina/Pool Reuters/AP/dpa

Eine wichtige Stimme Putins ist auch der schillernde Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Lange vorbei sind die Zeiten, als er die weltweit agierende PR-Agentur Ketchum beauftragte, Russlands Ansehen im Ausland zu verbessern. Dieses Ansehen ist dem Kreml inzwischen egal. Peskows Feld ist jetzt uneingeschränkt Desinformation und Kriegspropaganda. Einmal täglich spricht er meist über Telegram mit den Journalisten des sogenannten Kreml-Pools.

Peskow antwortet direkt, ohne Umschweife. Aber in letzter Zeit weicht er auch auffällig oft aus: Warum hat Tschubais den Kreml verlassen? Das war seine persönliche Sache. Wo ist Schoigu? Wenn Sie es genau wissen wollen, fragen Sie im Verteidigungsministerium nach. Nabiullina wollte zurücktreten? Davon wisse er nichts, man frage sie selbst.

Als graue Eminenz Russlands und entscheidender Stratege Putins gilt jedoch weiterhin Nikolai Patruschew. Der Sekretär des Sicherheitsrates und frühere KGB-Offizier koordiniert die Arbeit aller Sicherheitsorgane, des Militärs und der Nationalgarde, der Geheimdienste sowie des Innenministeriums. Der 70-Jährige, der Putin seit den Tagen in St. Petersburg kennt, gilt als wichtigster Einflüsterer.

In der vom Fernsehen übertragenen Sitzung des Sicherheitsrates vor Kriegsbeginn erklärte er, es sei sinnlos, mit Nato, EU oder einzelnen westeuropäischen Spitzenpolitikern zu verhandeln, weil sie alle aus den USA ferngesteuert seien. Patruschews Kontakte über den Atlantik sind offensichtlich in Takt. Kürzlich forderte er telefonisch von Biden-Berater Jake Sullivan, die USA sollten Kiew zur Kapitulation nötigen. Zwischen den beiden Präsidenten Putin und Biden gibt es derzeit keinen direkten Kontakt.

Welche Rolle spielt Verteidigungsminister Schoigu?

Armee und Geheimdienste bleiben weiterhin die wichtigsten Stützen des politischen Systems, meint Politikwissenschaftlerin Sasse. Am Beginn des Krieges waren Bilder von einem Treffen Schoigus und Generalstabschef Waleri Gerassimow mit Putin an einem langen Tisch inszeniert, die die zentrale Rolle der beiden signalisieren sollten. "Aber auch sie wurden auf Distanz gehalten", hat Sasse beobachtet.

In den sozialen Netzwerken hatten russische Oppositionelle bis Samstag darauf aufmerksam gemacht, dass Schoigu und auch Gerassimow seit zwei Wochen nicht mehr öffentlich aufgetreten waren. Gerade für Schoigu sei das außergewöhnlich, heißt es im Netz. Er hatte in der Vergangenheit großen Wert auf regelmäßiges Erscheinen in der Öffentlichkeit gelegt, nicht nur, wenn er mit Präsident Putin beim Jagen und Fischen in der Wildnis war. Gefragt nach dem Verbleib Schoigus, antwortete Kreml-Sprecher Peskow lapidar, der Minister habe viel zu tun in diesen Zeiten. Das Pentagon teilte mit, die Verbindung sei abgebrochen, für Anrufe des US-Verteidigungsministeriums sei Schoigu in den letzten Tagen nicht zu erreichen gewesen.

Zurzeit ist unklar, ob Schoigu wegen gesundheitlicher Probleme oder aus anderen Gründen nicht öffentlich präsent ist
Zurzeit ist unklar, ob Schoigu wegen gesundheitlicher Probleme oder aus anderen Gründen nicht öffentlich präsent ist © Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

An der jüngsten Sitzung des Sicherheitsrates soll er aber teilgenommen haben. Als Beweis dafür diente dem russischen Staatsfernsehen am Donnerstag ein Standbild. Es zeigt Putin, der in einer Videokonferenz vor dem Bildschirm sitzt. In dessen linker oberer Ecke soll Schoigu zugeschaltet gewesen sein. Allerdings könnte es eine Montage sein.

"Zurzeit ist unklar, ob Schoigu wegen gesundheitlicher Probleme oder aus anderen Gründen nicht öffentlich präsent ist. Diese Ungewissheit wird sich nicht lange aufrechterhalten lassen", ist Gwendolyn Sasse überzeugt. Umbesetzungen an der Armeespitze seien augenblicklich ein Risiko für Putin, da sie Zweifel an der Kriegsführung aufkommen ließen. An diesem Samstag ist der russische Verteidigungsminister zwar erstmals wieder öffentlich in Erscheinung getreten. Ob das Video wirklich aktuell entstanden ist, bleibt jedoch unklar. Datum und Uhrzeit werden im Video nicht genannt.

Der ukrainische Geheimdienst streut, FSB-Chef Bortnikow sei in Ungnade gefallen. Was ist davon zu halten?

Der FSB ist der russische Inlandsgeheimdienst, doch Putin hat in seiner Zeit als Chef Ende der 90-er Jahre die 5. Abteilung eingerichtet. Sie ist für die Analysen über die Staaten der früheren Sowjetunion zuständig. Die Ukraine spielte dabei von Beginn an die entscheidende Rolle. Den Chef des Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergej Naryschkin, hatte Wladimir Putin vor Kriegsbeginn im Sicherheitsrat "wie einen Schuljungen abgekanzelt", sagt Sasse. Das hatte einige Verwunderung ausgelöst, weil es aus dem übrigen Prozedere der Veranstaltung herausfiel.

Die FSB-Analyse über die Ukraine, die Bortnikow letztlich verantwortet, hatte Putin offenbar suggeriert, die russische Armee werde in der Ukraine mit Jubel und fliegenden Fahnen empfangen – und damit die tatsächliche Stimmung völlig falsch interpretiert. "Die Linien zwischen Tätern und Opfer im System verschwimmen", sagt Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Dabei könne es auch dazu kommen, dass hochrangige Sicherheitsakteure für die militärischen Misserfolge bestraft würden, "und damit für Entscheidungen, die Putin auf Basis seiner Analyse getroffen hat".

Die vom ukrainischen Sicherheitsdienst gestreute Information, dass sich FSB-Chef Bortnikow gegen Putin stelle und eine Gruppe um ihn herum sogar auf einen Machtwechsel hinarbeite, sollte mit Vorsicht betrachtet werden. "Bortnikow gilt als Hardliner im System und loyal zu Putin", sagt Meister.

Putin versucht, die Sanktionen des Westens zu unterlaufen. Welche Rolle spielt dabei Zentralbankchefin Elwira Nabiullina?

Die ehemalige Wirtschaftsministerin gehört zu einer Gruppe, die von der russischen Opposition als "Systemliberale" bezeichnet werden. Diese Gruppe, zu der auch Anatoli Tschubais und der frühere Finanzminister Alexej Kudrin gehören, vertritt Positionen, die dem westlichen Wirtschaftsliberalismus nahestehen, sie haben sich aber sich pragmatisch an die Realität von Putins staatsmonopolistischem Kapitalismus angepasst.

"Wirtschaftliche Eliten spielen schon länger keine zentrale Rolle in den Entscheidungen des Kremls", erklärt Gwendolyn Sasse. Die ökonomischen Konsequenzen der Sanktionen seien für Putin derzeit der Kollateralschaden des Krieges. "Sie werden mittelfristig ihre Wirkung entfalten und haben die Entscheidung, den Krieg mit allen Mitteln fortzuführen bestärkt und nicht abgeschwächt", schätzt sie ein.

Nabiullinas Aufgabe ist es, den Rubelkurs stabil und die Inflation niedrig zu halten. Damit war sie vor Kriegsbeginn ziemlich erfolgreich. Ihr Rücktritt hätte zu einigen Erschütterungen geführt, denn sie gilt als herausragend kompetente Finanzexpertin. Irritationen hatte ausgelöst, dass Nabiullina nicht dem Beratergremium angehört, das Maßnahmen zur Stabilisierung von Russlands Wirtschaft ausarbeiten soll. Auch zu ihrer Nominierung hat sie sich öffentlich noch nicht geäußert. Ob sie ihren Posten tatsächlich zur Verfügung stellen wollte, lässt sich nicht prüfen.

Was bedeutet der Rücktritt des Präsidentenberaters Anatoli Tschubais und sein Gang ins Exil?

Der Abgang hat symbolische Bedeutung. Tschubais war der Letzte derer, die seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ununterbrochen in höheren staatlichen und wirtschaftlichen Funktionen waren. Als Berater des Präsidenten für nachhaltige Entwicklung war der 66-jährige frühere Vize-Premier und Chef zweier großer Staatskonzerne aber faktisch bereits auf dem Abstellgleis.

"Was wir jetzt beobachten, ist ein Säubern von allen Elementen, die nicht loyal sein könnten, unter dem Stalinistischen Label der ,fünften Kolonne' des Westens", analysiert Russland-Experte Meister. Dabei scheine der Sicherheitsapparat freie Hand zu bekommen, gegen Liberale im System wie den Wirtschaftsberater Tschubais vorzugehen. "Es gibt keine Person mehr, die sicher ist, das gilt auch für Weggefährten Putins", sagt Meister.