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„Unfälle mit Senioren nehmen zu“

Ab einem Alter von 75 Jahren wird es am Steuer immer gefährlicher, sagt Verkehrsexperte Dieter Müller.

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© Robert Michalk

Riesa. Die B 169 am Rohrwerk Zeithain vor einer Woche: Auf der Brücke wird gebaut, der Verkehr umgeleitet. Ein 84-Jähriger aber umfährt mit seinem VW die Absperrung, kollidiert mit einem Bauzaun, durchquert die Baustelle, stößt wieder gegen einen Bauzaun, fährt Warnbaken um – und ab nach Hause. Die SZ sprach dazu mit dem Bautzener Verkehrsrechtler Prof. Dieter Müller, der an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg lehrt.

Die Irrfahrt eines 84-Jährigen vor einer Woche auf der B169 war noch glimpflich ausgegangen
Die Irrfahrt eines 84-Jährigen vor einer Woche auf der B169 war noch glimpflich ausgegangen
Auf der gesperrten B-169-Brücke am Rohrwerk Zeithain ereignete sich am 18.Juli ein ungewöhnlicher Unfall. Mittlerweile ist dort wieder freie Fahrt.
Auf der gesperrten B-169-Brücke am Rohrwerk Zeithain ereignete sich am 18.Juli ein ungewöhnlicher Unfall. Mittlerweile ist dort wieder freie Fahrt. © Sebastian Schultz

Herr Professor Müller, ein 84-Jähriger ignoriert sämtliche Absperrungen und fährt quer durch eine Baustelle. Wie kann so etwas passieren?

So was kommt häufiger vor, als man denkt! Einige Senioren sind weniger fit als andere. Sie kommen mit einer ungewohnten Verkehrssituation nicht zurecht und sind überfordert. Weil sie in dem Moment kein legales Verkehrsverhalten finden, fahren sie einfach den gewohnten Weg weiter. Dann sind sie geschockt – und wollen nur noch schnell in die gewohnte Gegend zurück: nach Hause.

Aber hätte man nicht einfach nach dem ersten Holpern anhalten müssen?

Ja. Aber das ist ein verkehrspsychologisches Problem. Der betreffende Fahrer muss dringend in Bezug auf seine Fahreignung begutachtet werden.

Werden denn heute tatsächlich mehr Unfälle durch Senioren verursacht?

Ja! Inzwischen sind sie für genauso viele Unfälle verantwortlich wie die kritische Altersgruppe der 18- bis 25-jährigen Fahrer. Während die Zahl bei denen gleich blieb, haben Senioren rasch aufgeholt. Und weil deren Zahl steigt und die Menschen immer älter werden, wird auch die Zahl solcher Unfälle weiter zunehmen.

Wenn wir von „Senioren“ reden – welche Altersgruppe meint das konkret?

Fahrer bis zum Alter von 75 fallen in der Verkehrsstatistik kaum auf. Erst ab diesem Alter steigt die Unfallhäufigkeit deutlich.

Was für Gründe hat das?

Mit dem Alter nehmen die Gebrechen zu: Es kommt zu Altersdiabetes, die Sehfähigkeit lässt nach, die Bewegungsfähigkeit. Man spricht da von einer Multimorbidität. Dagegen kann man sich nicht wehren, das ist das ganz normale Altern des Körpers.

Und man kann gar nichts tun?

Man muss reagieren: Senioren sollten sich freiwillig auf ihre Gesundheit checken lassen, wenn sie merken, dass ihnen das Fahren schwerfällt. Wenn man beispielsweise Verkehrszeichen nicht mehr richtig erkennt. Der Hausarzt ist dafür die erste Adresse. Dabei gibt es aber auch einen Nachteil.

Welchen?

Die wenigsten Ärzte haben eine verkehrsmedizinische Zusatzausbildung. Wenn man einen Spezialisten finden will, helfen Dekra, Tüv oder die Fahrerlaubnisbehörde. Auch die Landesärztekammer kennt Verkehrsmediziner – die ist im Übrigen zur Verschwiegenheit verpflichtet. Schließlich gibt es eine Hemmschwelle: Senioren fürchten unter Umständen, dass man ihnen gleich den Führerschein weg nimmt.

Ist diese Furcht nicht berechtigt?

Nein. Der Arzt weiß, was noch geht und was nicht. Er kann beispielsweise feststellen, dass man nicht mehr in der Dämmerung und im Dunklen fahren sollte. Oder er empfiehlt eine Kur für den Aufbau des Bewegungsapparats. Oft hilft auch schon eine neue Brille. Die Hemmschwelle, eine Fahrerlaubnis einzuziehen, ist in Deutschland jedenfalls sehr hoch. Eher gibt es beispielsweise eine Anordnung, nur noch in einem Radius von zehn Kilometern um den Heimatort zu fahren.

Was ist, wenn man seine Schwierigkeiten einfach nicht wahrhaben will?

Falls Angehörige so etwas bemerken, sollten sie das Gespräch zum Betroffenen suchen. Wenn zum Beispiel ein Auto durch ständige Parkrempler immer mehr Beulen bekommt, hat der Fahrer ein Problem. Dann sollte man gemeinsam eine Lösung finden: Angehörige können etwa schwierige Fahrten abnehmen – zum Beispiel bei Besorgungen aus der nächsten Großstadt.

Was, wenn alles Reden nicht hilft?

Das kommt vor: Bei beginnender Demenz werden die Betroffenen immer weniger zugänglich. Dann muss man den Angehörigen zu seinem Glück zwingen. Zum Beispiel lässt man die Enkel bei ihm nicht mehr mitfahren. Oder man sagt, dass man selbst nicht mehr einsteigt – und auch die Mutti nicht. Das zwingt zum Nachdenken. Letzter Schritt ist ein Gang zur Fahrerlaubnisbehörde.

Was passiert dann?

Dort macht man seine Bedenken öffentlich. Die Behörde ordnet eine fachärztliche Begutachtung an. Dort ist man ebenfalls bemüht, dem Betroffenen zu helfen. Wenn alles nichts nützt, wird die Fahrerlaubnis eben eingezogen.

In der Schweiz müssen ältere Fahrer regelmäßig zur Kontrolle. Was halten Sie davon?

Wenig. Das belastet die große Masse der Fahrer, die das Problem mit der Fahreignung gar nicht betrifft. Das System bei uns muss aber besser werden.

Wie denn?

Polizisten brauchen eine Ausbildung im Fahreignungsrecht, in der Verkehrsmedizin, in der Verkehrspsychologie – damit sie schon beim ersten Parkplatzrempler aufmerksam werden, wenn es nötig ist. Bei diesem Thema sind wir in Sachsen jetzt Vorreiter in Deutschland: Ich habe an der Polizei-Fachhochschule eingeführt, dass alle Kommissaranwärter Grundkenntnisse bei dem Thema vermittelt bekommen.

Gespräch: Christoph Scharf