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Unruhige Nacht für 1 800 Pirnaer

Auf der Baustelle der Südumfahrung finden Arbeiter am Donnerstag eine Bombe. Nach 15 Stunden voller Anspannung und einer großen Evakuierung gibt es mitten in der Nacht Entwarnung.

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© Marko Förster

Von Katharina Klemm, Gunnar Klehm, Christian Eissner und Jörg Stock

Pirna. Am Donnerstagvormittag ist es nur ein Störpunkt, der überprüft werden muss. In Vorbereitung auf den Bau der Pirnaer Südumfahrung sucht das Bauunternehmen Eurovia die geplante Route der neuen Straße nach Sprengstoff ab. Stellen, an denen möglicherweise Munition liegen könnte, kennzeichnen die Arbeiter als „Störpunkte“, um sie später genauer zu überprüfen. Auch auf dem Sonnenstein südwestlich der Krietzschwitzer Straße. Als sie dort die Erde abtragen, kommt ein metallenes Objekt zum Vorschein. Der Störpunkt wird zur Bombe.

Diese Bombe musste entschärft werden.
Diese Bombe musste entschärft werden.
Hinter diesem rot weißen Absperrband lag die fünf Zentner Fliegerbombe – in einer Grube mitten auf einer Obstplantage.
Hinter diesem rot weißen Absperrband lag die fünf Zentner Fliegerbombe – in einer Grube mitten auf einer Obstplantage. © Daniel Förster
Spezialisten des Kampfmittelbeseitigungsdiensts sowie Polizei und Feuerwehr sammelten sich am Nachmittag auf dem Parkplatz der Kleingartensparte „Zur Sonne“.
Spezialisten des Kampfmittelbeseitigungsdiensts sowie Polizei und Feuerwehr sammelten sich am Nachmittag auf dem Parkplatz der Kleingartensparte „Zur Sonne“. © Daniel Förster
Die Polizei sperrte an der B 172 die Zufahrt zum Fundort ab, um sicherzustellen, dass niemand in dessen Nähe kommt.
Die Polizei sperrte an der B 172 die Zufahrt zum Fundort ab, um sicherzustellen, dass niemand in dessen Nähe kommt. © Daniel Förster

Sofort wird der Fundort abgesperrt, der Kampfmittelbeseitigungsdienst gerufen. Nach Einschätzung der Spezialisten handelt es sich um eine 250 Kilo schwere Fliegerbombe amerikanischer Bauart aus dem Zweiten Weltkrieg. Es sei ein Zünder zu sehen gewesen, sagt Daniel Großer-Scholz vom Kampfmittelbeseitigungsdienst. Den müsse man entschärfen und dann schauen, ob eventuell noch ein zweiter Zünder vorhanden sei. Gemeinsam mit seinem Kollegen Sven Redmer legt Großer-Scholze fest, die Bombe vor Ort unschädlich zu machen.

Wann genau das passieren soll, ist lange unklar. Warten ist angesagt. Kurz nach Mittag hat die Polizei eine sogenannte Kräftesammelstelle vor der Kleingartensparte „Zur Sonne“ eingerichtet. Dort hat man wahrscheinlich noch nie so viel Polizei gesehen. Der Pirnaer Revierleiter Candy Sommer leitet den Einsatz. Es ist ein geschäftiges Kommen und Gehen.

Kurz vor 18 Uhr dann die Nachricht: Es wird heute noch evakuiert. Die Einsatzleitung legt fest, dass insgesamt 1 800 Menschen in mehreren Wohngebieten auf dem Sonnenstein und in der Pirnaer Südvorstadt ihre Häuser verlassen müssen.

„Der größte Mist ist, dass jetzt Dynamo spielt“

Reinhard und Simone Hickmann gehören zu den ersten, die gegen 19.45 Uhr in der Notunterkunft in der Turnhalle auf dem Sonnenstein eintreffen. Auf SZ-Online hatten sie gelesen, wo sie hinmussten. „Der größte Mist ist, dass jetzt Dynamo spielt“, sagt Reinhard Hickmann. Eigentlich hatte er sich auf einen gemütlichen Abend vorm heimischen Fernseher gefreut. Nun sitzt er auf einem Stuhl im Foyer und wartet. „Eine Rätselzeitung und eine Flasche Bier hat er mitgebracht. Er rechnet damit, dass er bis spät in die Nacht hier verbringen muss. „Zum Glück bin ich selbstständig, und kann mir für Freitag freigeben“, sagt er.

Auf den Holzbänken der Zuschauertribüne hat es sich Jörg Giesel „bequem“ gemacht. Er steht auf und zeigt auf seine zusammengefaltete Jacke. „Mal sehen, wann ich nicht mehr sitzen kann“, sagt er bitter. Aber die Situation lasse sich ja nicht ändern. Die Polizei klingelte an ihrer Tür und bat höflich, die Wohnung zu verlassen und sich in die Notunterkunft zu begeben. „Je weniger sich quer stellen, desto schneller geht es doch für alle vorbei“, sagt Jörg Giesel. Er hofft, gegen 1 Uhr wieder zu Hause zu sein. Die Rotkreuz-Helferinnen gehen gegen 20.30 Uhr auch noch davon aus, dass niemand hier übernachten muss.

Kaum jemand reagiert auf Aufforderung der Polizei

Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Es wurde eine Bombe gefunden. Gegen 21 Uhr wird der Bereich evakuiert. Packen Sie das Nötigste zusammen. Wenn Sie wollen, können Sie auf die Mozartstraße kommen. Dort steht ein Bus.“ Wieder und wieder tönt die Durchsage blechern aus den Lautsprechern des Streifenwagens, der durch die Ludwig-Richter-Straße in Pirnas Südvorstadt tuckert. Aber kaum jemand reagiert. Die Häuser liegen still, Jalousien sind herabgelassen.

Leute, die mit ihren Hunden Gassi gehen, haben die Hände in den Hosentaschen und lachen ungläubig. Bei Nummer 29 steht eine alte Dame an der Gartenpforte, winkt den Beamten, sie sollen halten. Ihr Mann sitzt im Rollstuhl. Wie sie nun wegkommt? Man wird sich kümmern, heißt es. Das hört die 83-Jährige schon den ganzen Tag. Schon gegen 15 Uhr hat sie im Internet die ersten Meldungen von der Bombe gelesen, hat Nachbarn Bescheid gesagt. Geld, Ausweise, die Medikamente hat sie schon längst zusammengepackt. Man kann ja nicht so viel mitnehmen, sagt sie. „Das bringt doch nichts.“

Die alte Dame kennt sich aus mit den Bomben. Sie wohnt hier seit 1937, hat als Kind mehrere Fliegeralarme mitgemacht, suchte im Bunker unter der Viehleite Schutz und im Wald. Schon wenn die Sirenen heulten, erzählt sie, hat sie geschrien. Auch beim Angriff am 15. Februar 1945, als tatsächlich amerikanische Bomben auf die Siedlung fielen, war sie hier. Über 100 Bombentrichter gibt es noch heute im Wald. Vermutlich stammt auch der Blindgänger, der sie am Donnerstagsabend aus dem Haus treibt, von diesem Tag vor 73 Jahren.

Ein Stück die Straße rauf steht ein Mann vor seinem Haus, schaut ungläubig. Im ersten Moment dachte er an einen Scherz. Die Durchsage sei so leise gewesen, ein Zufall, dass er sie überhaupt gehört habe. „Ist das amtlich?“ Immerhin hat auch er Erfahrung mit Evakuierung. Zum Hochwasser 2002 musste er auch raus. An das Chaos erinnert er sich mit Kopfschütteln. Und nun? Er weiß nicht recht. Grade heute hat er mit dem Nachbarn was getrunken, so wie alle vierzehn Tage. Mit dem Auto kann er also nicht weg. Vielleicht kann er sich eine Mitfahrgelegenheit organisieren – er wird mal telefonieren. Auf der Straße wohnen, so schätzt er, zu 80 Prozent alte Leute. Neugierig wegen des Aufruhrs steckt eine alte Frau den Kopf zum Fenster raus. Bombe? „Ich glaube, wir gehen hier nicht raus.“

Um halb zehn wird es langsam sehr ruhig in der Ludwig-Richter-Straße. An der Bushaltestelle stehen zwei große Busse der OVPS. „Einsatzfahrt“ steht auf dem Display. Die Busse sollen die Einwohner des Viertels vor der Bombenentschärfung in Sicherheit bringen. Aber abfahren können sie noch nicht. Erst muss die Polizei die geräumten Straßen menschenleer melden, dann kommt das Startsignal. Noch lichteln die Beamten zwischen den Häuserzeilen umher, noch brennt hier und da eine Lampe.

Entwarnung nach 15 Stunden voller Anspannung

Bei Klaus Schwarzbach und seiner Nachbarin Sigrun Wunderlich ist schon alles dunkel. Die beiden kommen mit ein wenig Gepäck zu den Bussen. Übertrieben finden sie die Evakuierung nicht. Wenn nachher was passiert, dann ist das Geschrei groß, sagen sie. „Wir finden das richtig.“ Klaus Schwarzbach wohnte schon in der Siedlung, als 1945 der Angriff der Amerikaner kam. Er war damals, es war Mittagszeit, gerade in der Schule in Rottwerndorf. Seine Mutter stand beim Alarm vor dem Haus, wartete auf ihn. Dann wurde ihr das Warten zu lang und sie ging hinein. Kurz darauf fiel eine Bombe fast genau auf diesen Fleck. Der Giebel des Hauses wurde weggerissen. Aber Klaus Schwarzbachs Mutter überlebte. Und er auch.

Also nun in den Bus. „Sonst fährt er noch weg.“ Wohin es geht? Das wissen sie gar nicht so genau. „Irgendwohin“, sagt die 73-jährige Frau Wunderlich guten Muts. „Essen haben wir mit, und eine Flasche Bier haben wir auch.“

Gegen 22.30 Uhr haben sich in der Notunterkunft auf dem Sonnenstein 95 Leute eingefunden, in der Schiller-Turnhalle an der Seminarstraße sind es 54. Die meisten Anwohner haben sich aber mit dem eigenen Auto auf den Weg gemacht – zu Freunden oder Verwandten. Die Polizei sagt, die Räumung läuft flüssig, es ist aber noch kein Abschluss abzusehen.

Immer noch ist zu dieser Zeit der Plan, die Bombe in der Nacht zu entschärfen. Nach 15 Stunden voller Anspannung: Entwarnung. Gegen 2.20 Uhr war die Bombe entschärft.

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