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Erzählt eure Geschichten aus Sachsen

Zum Thema „30 Jahre Mauerfall“ veranstaltet Sächsische.de einen Abend mit Lesern, die aus ihrem Leben seit 1989 berichten.

Von Oliver Reinhard
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Katrin Rohnstock veranstaltet seit 17 Jahren Ost-West-Erzählsalons.
Katrin Rohnstock veranstaltet seit 17 Jahren Ost-West-Erzählsalons. © Sebastian Bertram

Dreißig Jahre „Wir“ in Sachsen – Erzählt Eure Geschichte! Unter diesem Motto lädt die SZ am 30. Oktober gemeinsam mit der Salonniere Katrin Rohnstock ins Dresdner Haus der Presse ein. Der „Erzählsalon“ bietet Raum für Menschen und deren Geschichten, die sonst nur selten oder gar kein Gehör finden.

Willkommen sind alle Erzählungen über das Land und seine Leute, seine Kultur, seine Traditionen. Aber auch Geschichten von Konflikten, Sorgen, Brüchen und Wünschen derjenigen, die hier leben. Denn jede geteilte Erfahrung kann auch die Lösung eines Problems sein, findet Katrin Rohnstock. 

Im Interview berichtet sie, welche Erfahrungen sie selbst mit den bisherigen Erzählsalons in Sachsen gesammelt hat – und worin „die Sachsen“ für sie besonders sind.

Frau Rohnstock, Sie veranstalten nun schon seit 17 Jahren Erzählsalons im ganzen Osten, regelmäßig auch in Sachsen. Haben Sie mit den Menschen hier spezielle Erfahrungen gemacht?

Was mir jedenfalls auffällt: Dass die Sachsen nicht nur freundliche Menschen sind, sondern auch sehr offen. Sie erzählen freimütig und ohne falsche Scham aus ihren Leben, von ihren Gefühlen und wie sie die Gegenwart erleben. Beim Sachsentag in Riesa hatten wir gleich drei Erzählsalons. Einen zum Thema Arbeit. Ich habe gestaunt, wie ehrlich die Menschen ihre Berufsbiografie erzählten mit all den Aufs und Abs, die sie seit der Wende erlebten. Viele Betriebe sind ja nach der Währungsunion und durch die Treuhandpolitik zusammengebrochen, Tausende Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Viele haben sich umschulen lassen, neue Arbeit gefunden, wurden wieder arbeitslos – manche sind bis heute arbeitslos. Wieder andere starteten durch und waren beruflich und finanziell so erfolgreich, wie sie es in der DDR niemals hätten werden können.

Nun hat Sachsen als Region ja eine bemerkenswerte historische Bedeutung. Denken Sie, dass sich viele Sachsen mit Blick auf diese bedeutende Vergangenheit in der Gegenwart besonders schlecht behandelt und zu wenig ernst genommen fühlen?

Ich habe den Eindruck, dass besonders in Sachsen mit der Wende große Hoffnungen verbunden waren. Entsprechend größer waren die Enttäuschungen in den Nachwendejahren. Es gab eine große Bereitschaft, sich zu engagieren, für den Erhalt der Betriebe zu kämpfen oder durch Management by out Betriebe zu retten – aber das hatte kaum Wirkung. Nur 6 Prozent der volkseigenen Betriebe sind an Ostdeutsche gegangen. 86 Prozent der Betriebe an Westdeutsche, 6 Prozent an ausländische Investoren. Das habe ich durch die Arbeit an der Treuhand-Ausstellung begriffen, die wir im Auftrag der Rosa Luxemburg Stiftung kuratiert haben und die derzeit durch Sachsen wandert. Viele Ostdeutsche gingen in den Westen, um Arbeit zu finden, oder haben versucht, etwas Neues aufzubauen. Sie machten sich selbstständig – meist ohne Eigenkapital. Sie arbeiteten bis zum Umfallen. Sie glaubten, im Kapitalismus zählt vor allem Leistung. Doch unter dem Druck der westdeutschen Konkurrenz gingen viele in Insolvenz. Die Existenzgründer, kleinen Unternehmer und Handwerker wurden schnell von den Banken fallen gelassen.

Sie meinen, Sachsen reagieren möglicherweise besonders empfindlich, wenn sie glauben, unfair behandelt zu werden?

Könnte sein. Deshalb gehen die Sachsen auch hart ins Gericht mit dem Bild, was gerade die großen bundesweiten Medien von ihnen und ihrem Bundesland zeichnen. Das ist wirklich oft negativ. Sie empfinden eine große Diskrepanz zwischen der Darstellung und ihrem Selbstverständnis.

In geringerem Maße gilt das ja für den gesamten Osten. Möglicherweise liegt auch darin der Eindruck begründet, dass sich zurzeit wieder mehr Menschen als „wir im Osten“ verstehen und von „denen im Westen“ distanzieren?

So einen Kahlschlag, wie ihn etwa die Textilindustrie in Sachsen innerhalb von vier Jahren erlebt hat – von 340.000 Mitarbeitern auf 8.000 Mitarbeiter zusammengefaltet zu werden, gab es im Westen nirgends. In unseren sächsischen Erzählsalons innerhalb des Handwerker-Projektes, das wir derzeit mit Unterstützung von Christian Hirte durchführen, dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, höre ich ein starkes Selbstbewusstsein. Den zahllosen Abwertungen, die Ostdeutsche in den letzten 30 Jahre ertragen mussten, wird das Bewusstsein „Wir hier im Osten“ entgegengesetzt. Im Sinne einer Selbstbehauptung nach dem Motto „unsere besonderen Erfahrungen kann uns keiner nehmen“. Diese Erfahrungen unterscheiden Ostdeutsche nun mal von Westdeutschen. Und sie spielen eine wichtige Rolle dabei, wie unterschiedlich Ostdeutsche und Westdeutsche auf die Gegenwart schauen.

Das Gespräch führte Oliver Reinhard

Der SZ-Erzählsalon findet statt am 30. Oktober um 20 Uhr im Haus der Presse (DD, Ostra-Allee 20). Anmeldungen bitte per Mail mit Kennung “Erzählsalon“ an [email protected]