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Lügde-Prozess: Ohne Reue, voller Schuld

Für hundertfachen Kindesmissbrauch müssen zwei Männer jahrelang ins Gefängnis. Die Richterin findet klare Worte zu ihrer niederträchtigen Vorgehensweise.

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Die Angeklagten Heiko V. (l-r), Mario S. und Andreas V. missbrauchten jahrelang in mehreren hundert Fällen insgesamt 34 Kinder.
Die Angeklagten Heiko V. (l-r), Mario S. und Andreas V. missbrauchten jahrelang in mehreren hundert Fällen insgesamt 34 Kinder. © Friso Gentsch/dpa

Von Florentine Dame

Detmold. "Monströs", "abscheulich" und "widerwärtig": Ihre Worte, so warnt die Vorsitzende Richterin Anke Grudda gleich zu Beginn der Urteilsbegründung, reichten nicht aus, das Geschehen zu beschreiben. Über Jahre hinweg hatten die beiden Männer vor ihr auf der Anklagebank das Vertrauen kleiner Kinder erschlichen, um sie zu vergewaltigen. Eine heruntergekommene Behausung auf einem Campingplatz in Lügde am östlichen Rand Nordrhein-Westfalens wurde zum Tatort - und zum Inbegriff für Kindesmissbrauch in ungeheurem Ausmaß.

An diesem Donnerstag, nach zehn Verhandlungstagen vor dem Landgericht Detmold, ist davon auszugehen, dass die beiden deutschen Angeklagten es äußerst schwer haben werden, je wieder freizukommen. Nach langen Haftstrafen sollen sie in Sicherungsverwahrung bleiben - zu groß sei das Risiko, dass sie sich wieder sexuell an Kindern vergehen könnten, so Grudda. Der 56-Jährige Dauercamper Andreas V. erhält eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren - der 34-jährige Mario S., der immer wieder bei ihm zu Gast war, zwölf Jahre.

Es ist brechend voll im größten Gerichtssaal, den das Landgericht Detmold zu bieten hat. Hinter einer Doppelreihe mit Opferanwälten drängen sich Medienvertreter und Zuschauer. Ein Urteil in ähnlicher Höhe, nah dran an der Maximalstrafe von 15 Jahren, war erwartet worden. Und so bezeichnen Nebenklägeranwälte es später auf dem Gang vor dem Gerichtssaal als angemessen. Selbst die Verteidiger waren von zweistelligen Haftstrafen für ihre Mandanten ausgegangen.

Das, was Andreas V. und Mario S. den Kindern zufügten, wird sie wohl ihr Leben lang begleiten, davon zeigt sich Richterin Grudda in ihrer rund 50-minütigen eindringlichen Urteilsbegründung überzeugt. Die Kammer hat in dem Verfahren etliche schwer traumatisierte Kinder oder weiterhin unter den Folgen des Kindesmissbrauchs leidende Erwachsene kennengelernt. Zu deren Schutz war die Öffentlichkeit von weiten Teilen des Prozesses ausgeschlossen.

Es reichen einzelne Eindrücke, die Grudda wiedergibt, um eine vage Vorstellung des Grauens und fortdauernden Leides zu bekommen. "Viele Kinder haben bis heute Angst, dass die Angeklagten aus dem Gefängnis fliehen", sagt sie. Dabei galten beide als Kindermagneten, sie spielten Vaterfigur, lockten mit Geschenken und machten den Campingplatz zum Kinderparadies. So schildert die Richterin das "perfide System", das den jahrelangen Missbrauch überhaupt erst möglich machte. Das Verhalten sei "durch nichts, aber auch gar nichts zu entschuldigen".

Die Taten ereigneten sich auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde.
Die Taten ereigneten sich auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde. © Guido Kirchner/dpa

Die Kinder wurden schnell gezwungen, die Männer oral zu befriedigen, viele wurden vergewaltigt. Immer wieder hätten sich beide über die Schmerzen der Kinder hinweggesetzt. Insgesamt zählt die Anklage 32 Opfer, es seien vermutlich noch mehr gewesen. Die jüngsten Opfer waren vier und fünf Jahre alt. Die ersten angeklagten Taten geschahen bereits Ende der 1990er Jahre. Rund 450 Missbrauchstaten umfasste die Anklage, davon mehr als die Hälfte Vergewaltigungen.

Systematisch und planmäßig hätten beide Täter die emotionale Bindung der Kinder genutzt, um sie gefügig zu machen und zum Schweigen zu bringen. Sie arbeiteten mit Gewaltandrohung und Erpressung, für Nacktfotos gab es Kekse oder das Lieblingseis. Einem Kind gaukelten sie vor, Geister würden es holen, wenn es etwas verrate. Einem anderen drohten sie damit, zurück ins Heim zu müssen.

Besonders schwer wiegt das Schicksal der Pflegetochter von Andreas V., die etwa zweieinhalb Jahre lang in der heruntergekommenen Camping-Unterkunft lebte. Sie setzte er gezielt als Lockvogel ein, um sich das Vertrauen weiterer Mädchen zu erschleichen. "Herr V., das Kind war Ihnen anvertraut", hält Grudda ihm vor.

Die Richterin wendet sich häufig direkt an die Angeklagten, geht sie in scharfen Worten an, als wolle sie die im Prozess ausgebliebene Reue und Anteilnahme doch noch wecken. An beide gerichtet sagt sie: "Ihre nach außen zur Schau getragene Kinderliebe war nur eine Fassade, hinter der Sie Ihre pädophile Neigung versteckten. Es ging Ihnen nie um die Kinder. Es ging Ihnen immer um sich selbst."

Doch Schuldbewusstsein zeigten sie nicht: So habe Andreas V. den Prozess durchgehend emotionslos verfolgt und immer wieder abgeschaltet, als wolle er sich gar nicht mit seinen Taten befassen, schildert Grudda. Mario S. spricht sie ebenfalls jegliche Empathiefähigkeit ab. Er habe in seiner Selbstbezogenheit gar nicht begriffen, was er den Kindern angetan habe.

Dass sich beide in riesigem Ausmaß schuldig gemacht haben, daran lässt das Gericht keinen Zweifel. Es gebe Videos, E-Mails und zahllose glaubwürdige Aussagen. Überrascht es da nicht, dass das von der Monstrosität der Taten überzeugte Gericht nicht auf die Höchststrafe von 15 Jahren zurückgreift?

Grudda wird auch hier deutlich: Die Kammer habe eine Balance finden müssen zwischen einem deutlichen Signal der Abschreckung an potenzielle Täter - und dem Schutz der Opfer. Damit meint sie die Geständnisse, die deutlich strafmildernd in das Urteil einfließen mussten. Nur weil Andreas V. und Mario S. ihre Taten eingeräumt hatten, seien den Opfern ausführliche Befragungen im Zeugenstand erspart geblieben, erklärt die Richterin. (dpa)

Stichwort: Sicherungsverwahrung

Eine sogenannte Sicherungsverwahrung ist laut NRW-Justizministerium rechtlich nicht als Strafe einzuordnen. Ihr Zweck ist es, gefährliche Täter zu bessern und die Allgemeinheit zu schützen. Bei diesen Straftätern bestehe der Hang, erhebliche und für die Allgemeinheit gefährliche Straftaten zu begehen. 

Die Sicherungsverwahrung ist grundsätzlich zeitlich nicht begrenzt. Ob sie fortbesteht, wird regelmäßig von einem Gericht geprüft. Eine Sicherungsverwahrung kann unmittelbar im Urteil angeordnet oder auch vorbehalten werden.

Eine Sicherungsverwahrung schließt sich an die Verbüßung einer Freiheitsstrafe an. Nach dem sogenannten "Abstandsgebot" muss sich der Vollzug der Sicherungsverwahrung deutlich vom Strafvollzug unterscheiden. So ist den "Untergebrachten" eine individuelle und intensive Betreuung anzubieten, insbesondere eine psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung. 

Sicherungsverwahrung muss von einer Strafhaft räumlich getrennt vollzogen werden, entweder in einer eigenen Anstalt oder in separaten Abteilungen einer Justizvollzugsanstalt. (dpa) 

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