Merken

Vergebliche Flucht

Als Einzige aus einer großen Familie entging ein Meißner Ehepaar dem KZ nicht. Teil 6 der Serie über Stolpersteine.

Teilen
Folgen
© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Es gab eine Zeit in Meißen, da war der Nachname de Levie wohl den meisten in der Stadt geläufig. Da gab es zum Beispiel Samuel de Levie, den Viehhändler. In einem Tonbandprotokoll, das zwei Meißner Gymnasiasten 1992 für eine Belegarbeit anfertigten, erinnert sich der Zeitzeuge Herr G.: „Er wohnte auf der Großenhainer Straße gegenüber des Güterbahnhofes. Er kaufte Vieh auf und verkaufte es später wieder. In der Nassau, beim heutigen Albert-Mücke-Ring, hatte er das Vieh.“ De Levies Tante habe sich „rechtzeitig absetzen können, und lebte in Holland“. Von dort, genauer gesagt aus Groningen, weit im Norden Hollands, stammte die jüdische Familie.

Vor dem Haus wurden am 5. Dezember 2013 zwei Stolpersteine für das ermordete Ehepaar verlegt.
Vor dem Haus wurden am 5. Dezember 2013 zwei Stolpersteine für das ermordete Ehepaar verlegt. © Claudia Hübschmann

Mit seiner Frau hatte Samuel de Levie sechs Kinder, vier Söhne und zwei Töchter. Es ist das Schicksal seines ältesten Sohnes, Benjamin Bernhardt de Levie, benannt nach dem Großvater, das traurige Berühmtheit erlangen und für immer in einem Stein vor der Großenhainer Straße 13 verewigt werden sollte. Samuel de Levie musste das nicht mehr miterleben.

„In gewisser Hinsicht waren ... jene der ersten Meißner Judengeneration zu beneiden, deren Leben in einem angemessenen Alter und in Frieden vor der Schwelle zum Holocaust zu Ende ging“, schreibt Gerhard Steinecke in „Juden in Meißen“. Samuel de Levie starb wohl 1932 eines natürlichen Todes, seine Frau Frankja (Froukje) 1933.

Seine Kinder hatten es schwerer, wie sich auch der Zeitzeuge G. erinnerte: „Der kleine Bruder ging mit mir auf die Schule. Dort machte sich die Antipathie gegenüber den Juden schon bemerkbar, kleine Sticheleien. Ich fand es ungerecht, wie die Mitschüler ihn behandelten. Es war kein Ziel für ihr Vorgehen da, es waren sinnlose Zänkereien von Kindern, die den wahren Grund nicht verstanden.“

Ende der 30er Jahre wurde aus Zänkereien Hass und die Juden in Meißen hatten nicht mehr nur noch um ihren Besitz, sondern auch um ihr Leben zu fürchten. Schon bis Ende 1933 war ein Viertel der Juden aus der Stadt und meist auch aus Deutschland ausgewandert. Auch die Familie de Levie ergriff irgendwann die Flucht. Max Moses de Levie, zwei Jahre jünger als Bernhardt, schaffte es bis nach Amerika, starb dort erst 1974 an Herzversagen. Die jüngere Schwester Berty Monte lebte noch bis 1982 in Jena. Leo de Levie war schon im Alter von einem Jahr verstorben. Daniel de Levie lebte bis 1983 in der Schweiz. Geertje, die älteste Tochter, wurde noch 71 Jahre alt.

Bernhardt de Levie war 40, als er starb, im Vernichtungslager Auschwitz, in das er 1942 zusammen mit seiner Frau Frieda, 32 und in Bonn geboren, deportiert worden war. Frieda de Levie lebte 44 Tage länger als ihr Mann. Ob sie sich im Lager noch einmal wiedersahen, ist ungewiss. Auch sie hatten die Flucht ergriffen, sich aufgemacht nach Amsterdam, in das Heimatland der de Levies, wo sie den Nazis entkommen wollten. Es war derselbe Plan, den die Familie von Anne Frank verfolgt hatte.