Merken

Verzerrte Gesellschaft

Ist die Demokratie in einer Krise? Straßenproteste und neue Parteien sind Normalität, sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Ihn treibt eine ganz andere Sorge um.

Teilen
Folgen
© dpa

Schon Platon und Aristoteles sprachen von einer Krise der Demokratie. Doch in letzter Zeit scheint das ewige Thema wieder brisant zu werden: soziale Ungleichheit, sinkende Wahlbeteiligung, Zusammenprall der Kulturen, Massenproteste in Dresden. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel befasst sich seit Jahren mit den Stärken und Schwächen demokratischer Systeme. Er warnt davor, dass sich ein Teil der Bevölkerung von der Politik verabschiedet.

Wolfgang Merkel, geboren 1952 in Hof, ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Wolfgang Merkel, geboren 1952 in Hof, ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. © David Ausserhofer

Herr Merkel, seit Jahren wird von der Politikverdrossenheit geredet. Sind Protestparteien und -bündnisse wie AfD und Pegida Zeichen dafür, dass die Verdrossenheit politisch wird?

Protestparteien und wiederkehrende Demonstrationen zeigen häufig eine Politisierung von Bürgern an. Da kann ein Bahnhof in Stuttgart die Ursache sein oder aber die Unzufriedenheit mit der Einwanderungspolitik in Dresden. Die AfD ist übrigens keineswegs nur eine Protestpartei. Sie repräsentiert auch Einstellungen und Meinungen eines gar nicht so kleinen Teils der Bevölkerung.

Ist Pegida ein Symptom für eine Krise der Demokratie?

Nein, das wäre zu viel der Ehre für diese dubiose Organisation. Eine Demokratie kann, soll und muss auch diese Manifestationen aushalten, selbst wenn sie latente fremdenfeindliche Ansichten zum Ausdruck bringen.

Man könnte Pegida auch so sehen: Tausende machen von ihrem Bürgerrecht auf Demonstration Gebrauch und stoßen eine Debatte an. Ist das nicht lebendige Demokratie pur?

Das wäre ja ein schickes sächsisches Paradox: Bürger mit teilweise undemokratischen Einstellungen äußern diese auf der Straße, und schon wird die eingeschlafene Demokratie wieder quicklebendig. Aber dafür ist Pegida selbst zu wenig demokratisch. Dennoch: Da gibt es Bürger – und das geht über Pegida und AfD hinaus –, die fühlen sich von den konventionellen Parteien nicht mehr repräsentiert. Sie gründen neue Parteien und Organisationen und füllen damit eine Repräsentationslücke. Auch das ist Teil, wenn nicht gar Stärke der Demokratie.

Der sächsische CDU-Landtagsabgeordnete Lars Rohwer vergleicht Pegida mit der 68er-Bewegung, weil die „Systemfrage wieder auf der Tagesordnung“ sei. Sehen Sie auch Parallelen?

Das ist im ersten Anschein ignorant, bei genauerer Ansicht geradezu abstrus. Wer Pegida attestiert, sie hätte die Systemfrage gestellt, also die Frage nach dem Sein oder Nicht-Sein der Demokratie, bläst die Bedeutung einer in sich gerade zusammenfallenden Bewegung noch mal kräftig auf und unterschätzt fahrlässig die Robustheit unserer Demokratie. Der Vergleich mit der 68er-Bewegung offenbart zudem eine erstaunliche historische Unkenntnis.

Inwiefern?

Die damalige Studentenbewegung ist angetreten, die Reste der formierten Adenauer-Gesellschaft aufzulösen. Sie wollte die Gesellschaft öffnen, Pegida will sie schließen. Sie trat für die Überwindung nationaler Engstirnigkeit ein, Pegida will zurück in nationalistische Ressentiments. Die Studentenbewegung hat die bundesdeutsche Gesellschaft kulturell modernisiert, Pegida parodiert mit rückwärtsgewandten Parolen.

In Sachsen lag die Wahlbeteiligung voriges Jahr bei historisch niedrigen 49,1 Prozent. Was ist eine Demokratie noch wert, in der jeder Zweite nicht zur Wahl geht?

Fast nur die Hälfte. Dabei geht es nicht nur um die niedrige Wahlbeteiligung, sondern vielmehr um deren ständigen Rückgang. Das eigentliche Problem aber ist, dass diejenigen, die nicht wählen gehen, kein repräsentativer Durchschnitt der Bevölkerung sind. Sie sind vor allem den unteren Schichten zuzurechnen. Nicht nur in Sachsen, sondern auch in ganz Deutschland, Europa und der gesamten westlichen Welt: Die unteren Schichten steigen aus der politischen Teilnahme aus. Wir laufen Gefahr, zu einer „Zwei-Drittel-Demokratie“ zu werden.

Oft hört man jedoch, die Wahlbeteiligung sei so niedrig, weil es den Menschen einfach zu gut geht.

Es gibt diese Zufriedenheitsthese, sie kommt vor allem aus den USA. Dies ist empirischer Unsinn. Denn es sind nicht die saturierten oberen Mittelschichten, die sich der Wahlen enthalten. Die wählen fleißig überproportional weiter. Es sind die unteren Schichten, die mit ihrem Leben unzufrieden sind. Sie protestieren aber immer weniger, sondern ziehen sich resigniert in die politische Apathie zurück.

In Belgien gibt es eine Wahlpflicht. Aber kann das die Lösung sein, die Bürger an die Wahlurne zu zwingen?

Ich halte eine Wahlpflicht für sinnvoll. Einmal in vier oder mehr Jahren zu Kommunal-, Landtags-, Bundestags und Europawahlen zu gehen ist keine Freiheitsberaubung. Das Steuerrecht verlangt von den Bürgern ganz andere Pflichten. Bei einer Wahlpflicht sollte es aber auch eine Protestoption auf dem Wahlzettel geben, das heißt eine Wahlkategorie, die besagt: „Keine der Parteien.“ Die Wahlpflicht alleine wird es allerdings nicht richten.

Sind Volksentscheide ein Mittel, um die Bürger wieder mehr für Politik zu interessieren?

Jein. Zum einen erweitern Volksentscheide die Mitwirkungsmöglichkeiten. Das ist positiv. Aber: Zu Volksentscheiden gehen noch weniger Bürger als zu Wahlen. Je häufiger sie stattfinden, umso weniger nehmen teil. Je weniger sich beteiligen, umso größer ist der Überhang der Mittelschichten und die Unterrepräsentation der unteren Schichten. Wenn knapp 25,1 Prozent vor allem der männlichen Mittel- und Oberschichten mittleren Alters ein Gesetz beschließen, das für alle gilt – dann kann das auch weniger Demokratie bedeuten. Dann erhebt sich mit Fug und Recht die Frage: Wer ist das Volk?

In Brüssel werden viele wichtige Entscheidungen getroffen, die unser Leben betreffen. Das EU-Parlament hat darauf nur wenig Einfluss, wir Wähler also auch nicht. Ist das nicht eine schleichende Aushöhlung der Demokratie?

Ja, leider ist das so. Die EU ist deutlich weniger demokratisch als die meisten ihrer Mitgliedsländer, nicht zuletzt Deutschland. Würde die EU die Aufnahme ihrer selbst in den Klub verlangen, sie würde wegen gravierender Defizite abgelehnt. Das Europäische Parlament bietet keinen Ausweg aus dem Dilemma. Die Bürger schätzen es nicht, falls sie überhaupt seine Kompetenzen kennen. Die Wahlbeteiligung ging seit 1979 noch bei jeder Wahl zurück. Bei den letzten Wahlen 2014 beteiligten sich europaweit nur noch 43,1 Prozent. Ein dünnes Eis, das nicht weit trägt.

In Deutschland gibt es viele, die mit Putin sympathisieren. Steckt dahinter auch eine Sehnsucht nach dem „starken Mann“, den es in einer Demokratie kaum geben kann?

Die Deutschen fühlen sich da doch besser bei einer „Mutti“ aufgehoben, die nicht polarisiert, keine klare Meinung vorträgt, abwartet und sich geradezu präsidial überparteilich gibt. Ihr Typus verkörpert in Wort und Bild eher den deutschen Durchschnittstypus als eine herausgehoben autoritäre Regentin.

Brauchen wir vielleicht doch wieder mehr Nationalstolz, um die Menschen für Politik zu begeistern?

Nein, weiß Gott nicht. Da reicht schon die Begeisterung für unsere Fußball-Elf. „Wir“ spielen uns gegenwärtig schon genügend als wirtschaftspolitischer Lehrmeister in Europa auf. Das wird Deutschland längerfristig in der EU zurückgezahlt werden. Am deutschen Wesen soll bitte niemand genesen.

Weil sich immer mehr vom System abwenden, wird jetzt oft nach politischer Bildung gerufen. Riecht das nicht nach „Staatsbürgerkunde“ wie in der DDR?

Nein, Staatsbürgerkunde ist keine Anweisung von oben. Es ist eine Ermächtigung der Zivilgesellschaft, die da oben zu kontrollieren und sich aktiv in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen. Heute vollziehen sich nämlich politische Lernprozesse viel stärker in der Zivilgesellschaft als unter staatlicher Ägide.

Sind Islam und Demokratie miteinander vereinbar?

„Den“ Islam und „die“ Demokratie gibt es nicht. Es gibt Schiiten, Sunniten, Sufis, IS, Euroislam, Hassprediger, Judenhasser, aber auch rechtsstaatlich-demokratisch denkende Muslime in Europa und anderswo. Allerdings kann kein Zweifel bestehen, dass manche Varianten des gegenwärtigen Islam nur schwer mit den Geboten der Demokratie vereinbar sind. Wer den Abfall vom „rechten Glauben“ drakonisch bestraft, wer Homosexualität kriminalisiert, die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen verweigert, wer Kritik am Propheten mit Fatwas belegt, der steht außerhalb der Demokratie. Leider reden wir weltweit da nicht über kleine Minderheiten.

Warum gibt es in Deutschland eigentlich keine Massenproteste gegen die zunehmende soziale Ungleichheit?

Wir sind eine saturierte Mittelschichtsgesellschaft geworden. Die benachteiligten Schichten beteiligen sich nur noch wenig an der Politik. Gewerkschaften vertreten nicht mehr die Unterschichten. Warum aber nicht gegen eine Entwicklung protestiert wird, die 1 Prozent oder 0,1 Prozent der Gesellschaft schamlos superreich macht, ist auch für Politikwissenschaftler schwer zu erklären. Die demokratischen Regierungen haben weltweit mit der perspektivlosen Deregulierung der Märkte und der Privatisierung öffentlicher Güter dem Kapitalismus zu viel Raum gegeben. Der Zauberlehrling hat zu viel aus der Hand gegeben.

Viele klagen, es gebe kaum noch Unterschiede zwischen den Parteien. Was sagt die Politikwissenschaft dazu?

Das ist zwar ein populärer Spruch, stimmt aber nicht. Die Programme von FDP und der Linken, der AfD und den Grünen unterscheiden sich erheblich. Richtig ist, dass die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD sich in Fragen der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik nur noch wenig unterscheiden, wenn sie in der Regierung sitzen. Große Koalitionen sind aber keineswegs weniger demokratisch als andere Koalitionen, da sie einen größeren Anteil der Wähler repräsentieren.

Ausgerechnet den Ostdeutschen, die ihre Freiheit selbst erkämpft haben, wird vorgeworfen, ihnen fehle Demokratie-Erfahrung. Ist es nicht umgekehrt so, dass Westdeutsche in einer Wohlfühldemokratie gelebt haben?

Die Bürgerrechtsaktivisten und die großen Montagsdemonstrationen 1989 in der DDR verdienen allen Respekt. Gerade von den Wohlstandswessis, die die Chance der Demokratie 1945 auch eher von den Westmächten „geschenkt“ bekamen. Für Ostdeutschland wurde die Freiheit eher in Moskau entschieden, in Polen erkämpft und in Ungarn vorbereitet. Erst dann wuchs der Protest auch in der DDR.

Der System-Kollaps kam dann für viele unerwartet. Können wir sicher sein, dass unsere Demokratie stabil ist?

Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Der faktische Ausschluss der unteren Schichten ist besorgniserregend. Die Transformation der sozialen Marktwirtschaft in eine sozial unsensible Marktgesellschaft stellt ein Problem dar. Aber: Die deutsche Demokratie zählt in der Politikwissenschaft mit Recht zu den besten der Welt. Zudem ist sie außerordentlich stabil. Daran ändert auch die randständige Pegida nichts.

Gespräch: Marcus Krämer