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Vom Kuhdorf zum Arbeiterviertel

Löbtau feiert 950-jähriges Jubiläum. Der Stadtteil hat eine bewegte Geschichte.

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© Sammlung Wolf

Von Daniel Krüger

Wer heute durch Löbtau flaniert, der erlebt an der Kesselsdorfer Straße Großstadtambiente. Alle Altersklassen, Nationalitäten und Berufsschichten scheinen sich im Viertel wohlzufühlen. Besonders für junge Familien ist Löbtau mit seinen zu Fuß erreichbaren Einkaufsmöglichkeiten und zahlreichen Bildungseinrichtungen ein Paradies, wie Viola Martin-Mönnich vom Stadtteilverein Löbtop erzählt. Er ist, genau wie die Kirchen, in der Kultur- und Sozialarbeit des Viertels stark engagiert. Neben Nähkursen und gemeinsamen Kochabenden kümmern sich die Mitglieder von Löbtop e. V. auch aktiv darum, dass die Geschichte des Stadtteils nicht in Vergessenheit gerät. Denn Löbtau ist aufgrund seiner schönen Gründerzeithäuser und verhältnismäßig günstigen Mieten besonders bei Neudresdnern beliebt.

Die Kesselsdorfer Straße heute.
Die Kesselsdorfer Straße heute. © Sven Ellger

Auch die Zugezogenen sollen sich hier schnell heimisch fühlen, findet Holger Hase, FDP-Kreissvorsitzender und Historiker. Das sei nur aber nur möglich, wenn sie die Geschichte des Viertels kennen. Anlässlich des 950-jährigen Jubiläums des Stadtteils hat er dieses Jahr zwei historische Führungen durchs Viertel angeboten, die auf reges Interesse gestoßen sind.

Wenn Hase die Neugierigen durch Löbtau führt, fängt er im historischen Ortskern an; am Anger in Alt-Löbtau. Hier befanden sich, namentlich erstmals im Jahr 1068 erwähnt, einige Bauernhäuser und zahlreiche Weideplätze. Durch die Nähe zur Weißeritz war der Boden gut und Viehhaltung ein einträgliches Geschäft. So bekam der Ort auch den Spitznamen „Kuh-Löbte“, der sich bis heute gehalten hat. Die Bevölkerung in Löbtau wuchs lange kaum. 1445 wohnten hier 80 Menschen in nur zwölf Bauernhäusern. Doch schon damals musste die Gemeinde als Eingangstor nach Dresden viel Leid ertragen. Insgesamt sechsmal, darunter im Dreißigjährigen Krieg und während der Napoleonischen Zeit, wurde das Dorf komplett ausgebrannt und geplündert.

Den Weg zum lebendigen Stadtteil nahm die Gemeinde in Hochgeschwindigkeit. Mit der 1855 eröffneten Albertbahn, benannt nach dem sächsischen Kronprinzen Albert, wurde Löbtau zur Hochburg der Industrialisierung. Als der Stadtteil 1903 nach Dresden eingemeindet wurde, zählte er bereits 43 000 Einwohner; 1855 waren es noch 400 gewesen. Neben Schokoladen- und Zementfabrik interessierte sich auch die Unternehmerfamilie Siemens für den boomenden Standort. Bis zur Bombardierung 1945 war das Siemens’sche Glaswerk an der Freiberger Straße in Betrieb. Das Gelände hat eine kuriose Verbindung zum Tod: Von 1740 bis 1837 stand hier der sogenannte Löbtauer Galgen, an dem öffentliche Hinrichtungen stattfanden. Da man die Gehängten damals einfach an Ort und Stelle ließ, sammelten sich schnell wilde Aasfresser am Weißeritzgrünzug.

Im Glaswerk von Siemens entstand später die europaweit erste Einäscherungsanlage. Urnenbestattung wurde als unchristlich betrachtet, weshalb es keine offiziellen Verbrennungsanlagen gab. Friedrich August Siemens bot seine Hochleistungsöfen an und löste somit das Problem. Auch sonst konnte sich Löbtau vor Zuzüglern kaum retten. Seit die elektrische Straßenbahn den Stadtteil ab 1900 mit dem Postplatz verband, kamen viele Groß- und Kleinbetriebe sowie Handwerker nach Löbtau. Dies führte sowohl zu einem massiven Ausbau der Volksschulen als auch zu einem riesigen Bedarf an Gräbern.

Der 1875 gebaute Annenfriedhof etwa bot ursprünglich Platz für über 40 000 Tote. Weil aktuell nur 20 000 Menschen hier begraben und Urnen platzsparender sind als Särge, ist der Friedhof heute als grüne Lunge des Stadtteils bekannt. Jogger und Spaziergänger schätzen die Atmosphäre der historischen Anlage, deren Eingangsbereich nach italienischem Vorbild gestaltet ist. Was viele nicht wissen: Am hinteren Ende des Friedhofs befindet sich ein Massengrab, in dem die Opfer der Bombardierungen von 1945 beigesetzt sind. Neben Menschen aus Löbtau liegen hier auch zahlreiche Kriegsgefangene begraben.

Schließlich war Löbtau von den Bombardements schwer betroffen. So wurden nicht nur Rathaus und Friedenskirche schwer beschädigt. Das Areal an der zentralen Kreuzung zwischen Tharandter Straße und Kesselsdorfer Straße wurde vollkommen zerstört. Hungersnot und Hygienemängel prägten die Zeit nach 1945. Da kaum jemand ein eigenes Bad hatte, gingen viele Löbtauer zum Waschen ins Volksbad am Badweg. Ende der 40er-Jahre kam es zur Wiederbelebung der Kesselsdorfer Straße als Einkaufsmeile. So wurde unter anderem das im Krieg teilzerstörte genossenschaftliche Konsum-Kaufhaus renoviert und in staatliche Hand überführt. Dennoch hatte Löbtau zu DDR-Zeiten viel Leerstand und Verfall zu beklagen.

Nach der Wende kamen die Investoren aus dem Westen. Sie fanden besonders an den schicken Gründerzeithäusern Gefallen. Die Bevölkerungsstruktur hat sich seitdem drastisch verändert. Über sechzig Prozent der heutigen Bewohner Löbtaus sind zugezogen, schätzt Holger Hase. Er selbst lebt seit 18 Jahren im Viertel und möchte – wie viele – nicht mehr weg.