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Vom Wir zum Ich und zurück

Was passiert mit der Gesellschaft, wenn sich jeder nur noch für sich selbst interessiert und die anderen drum herum aus dem Blick verliert? Eine Antwort darauf aus der Sicht Bettina Ruczynskis.

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Von Bettina Ruczynski

In der aufs Kollektiv ausgerichteten DDR gab es die Losung „Vom Ich zum Wir!“. Erinnert sich noch wer? Doch auch unabhängig von solchen aufmunternden Schlagsätzen gab es in beiden Deutschländern einmal ein vitales, angriffslustiges Wir. Als wir gemeinsam viel riskierten und montags auf den Straßen riefen: „Wir sind das Volk!“ Und dann waren die Grenzen tatsächlich weg. Als Tausende gegen den Nato-Doppelbeschluss und Pershings demonstrierten, sich nicht nur im Bonner Hofgarten an den Händen hielten und gemeinsam gegen eine Staatsdoktrin standen. Das Wir war stark, wir waren stark. Was ist seitdem mit dem Wir passiert? Wohin ist es verschwunden?

Bettina Ruczynski, Jahrgang 1954, bei Meiningen geboren, studierte in Leipzig Journalistik und arbeitete als Theaterdramaturgin. Als freie Journalistin schreibt sie regelmäßig für die Sächsische Zeitung.
Bettina Ruczynski, Jahrgang 1954, bei Meiningen geboren, studierte in Leipzig Journalistik und arbeitete als Theaterdramaturgin. Als freie Journalistin schreibt sie regelmäßig für die Sächsische Zeitung.

Und wieso ist es plötzlich wieder da? Bis September wird uns der Wahlkampf-Slogan der SPD „Das Wir entscheidet!“ begleiten. Zu Recht wurde über das schlichte Motto gespottet. Doch allein die Tatsache, dass dem Wir plötzlich die Kraft zugetraut wird, eine Polit-Parole anzuführen, nährt den Verdacht, dass das Wir in der jüngeren Vergangenheit zu einer anerkennenswerten, weil so seltenen Art geworden sein könnte. Das Wir steht für Gemeinsamkeit, für ein Miteinander, für ein kollektives Ziel, das imstande ist, Trennendes zu einen, Gräben zu überbrücken und sogar Mauern zu Fall zu bringen.

Das „Wir-Gefühl“ verbindet Menschen über Standes-, Glaubens- und Geschlechtergrenzen hinweg, trägt sie empor. Wir waren Papst. Wir waren uns einig in einem heute sagenhaft harmonisch anmutenden Sommermärchen. Wir waren gefühlte Fußballweltmeister, auch wenn es am Ende nur der undankbare dritte Platz war. Wir teilten eine Euphorie und surften gemeinsam auf einer verbindenden Welle der Begeisterung. Wir waren Deutschland. Dieses „Wir-Gefühl“ hat uns nichts abverlangt, im Gegenteil: Es hat uns stolz gemacht ohne eigene Anstrengung und dazu reichlich beschenkt mit Emotionen und dem schönen Bewusstsein, dazuzugehören, ein wichtiger Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst. Auch als wir alle Lena waren und mit der Gymnasiastin aus Hannover plötzlich einen europäischen Schlagerwettbewerb gewannen, schwelte noch etwas von diesem „Wir-Gefühl“ im Land und in vielen von uns.

Gleichzeitig änderten die entfesselten Finanzmärkte die Zeiten und unsere Gefühle füreinander. Nie für möglich Gehaltenes geschah. Nicht nur Banken gingen pleite – ganze Länder stehen vor dem Konkurs. Selbst wenn der Dax gerade jubelt: Das Gespenst der permanenten Finanzkrise geht um in Europa.

Wir lernten neue Worte kennen und fürchten: „Alternativlos“ war wohl das irreführendste und am meisten demütigende. Weil wichtige Menschen alles besser zu wissen glaubten, getrieben von Verpflichtungen, die sich uns längst nicht mehr erschlossen. „Ratingagentur“ war der geheimnisvollste der neuen Begriffe. Jene Agenturen, von deren Existenz wir zur Sommermärchenzeit noch nichts ahnten – sie wurden zu selbst ernannten Richtern über ganze Volkswirtschaften, teilen sie ein und werten sie ab. Wer bewertet die Ratingagenturen?

Das Wir hatte jählings ausgedient. Wichtig wurde anderes: Geiz, wie Neid eine der biblischen Todsünden, war plötzlich „geil“ geworden. Und ähnlich ging es weiter: „Unterm Strich zähl‘ ich.“ „Weil ich es mir wert bin!“ „Ich bin doch nicht blöd!“ Aufmerksam fangen Werbeslogans den Zeitgeist ein und dokumentieren damit gesellschaftliche Binnenentwicklungen – in diesem Fall die Entwicklung vom Wir zum Ich. Aus einer mehr schlecht als recht funktionierenden Solidargemeinschaft wurde unter dem Druck angeblich alternativloser Machenschaften schleichend eine Horde von tugendfreien Ich-Lingen, deren reichste und findigste Mitglieder Meister darin wurden, mit ihren abgezweigten Steuergeldern Oasen unter Palmen zu düngen. Das trügerische Motto „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht“ bekam einen unheimlich stimmigen Klang.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde so groß wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Jeder dritte Hartz-IV-Empfänger hat zwar einen oder gar mehrere Jobs, kann aber von den Früchten seiner Arbeit nicht leben, muss „aufstocken“ und darf von sonnigen Oasen nur träumen. Und selbst das tut er nicht. Was sollte er dort in den Sand setzen?

1987, bei der Einführung des Dax, waren die Bezüge der Dax-Vorstände etwa 14-mal so hoch wie der Durchschnittslohn in den Unternehmen. 2007 gönnten sich die Vorstände im Schnitt 51-mal so viel wie ihren Mitarbeitern. 1970 besaßen die reichsten zehn Prozent der Deutschen 44 Prozent des gesamten Volksvermögens. Heute besitzen sie 66,6 Prozent, Tendenz weiter steigend. Der Journalist Walter Wüllenweber meint dazu: „Die großen Gewinner der Umverteilung des jüngsten Jahrzehnts sind die oberen 80 000, das reichste Promille. Sie sind Privateigentümer fast eines Viertels des Vermögens aller Deutschen. Vom Finanzkapital besitzen die reichsten fünf Prozent insgesamt drei Viertel.“

Wer das kritisiert, bekommt schnell das Etikett des typisch deutschen Neidhammels angeheftet. „Zu anderen Zeiten wäre eine Umverteilung in einem solchen Ausmaß Grund genug für eine blutige Revolution gewesen“, so Wüllenweber.

Zugegeben: Das Wir ist nicht erst seit Beginn der chronischen Finanzkrise arg in die Bedeutungslosigkeit gedrängt worden. Es fand sich schon vorher Hand in Hand mit dem Gutmenschen in einer Schmuddelecke historischer Überlebtheit wieder. Uncool halt. Schade, eigentlich.

Die Verkommenheit der Wirtschafts- und Finanzeliten – definitiv keine Gutmenschen –, ihre verdorbenen Boni- und Business-Gepflogenheiten und ihre Jongleurkunststücke bei der Steuerzahlung zehren auf paradoxe und kümmerliche Weise am kümmerlichen Pflänzchen Wir. Wir erfuhren plötzlich, dass wir allem ohnmächtig und hilflos ausgeliefert sind: Banken und Länder müssen bis auf den heutigen Tag gerettet, Schirme aufgespannt und Pakete geschnürt werden. Milliarden, die für den flächendeckenden Kita-Ausbau und ähnliches „Gedöns“, um den Begriff eines sozialdemokratischen Kanzlers zu bemühen, partout nicht vorhanden waren, materialisieren sich plötzlich aus dem Nichts, um die international verflochtene Finanzindustrie zu retten.

Wir nehmen es hin, wie auch die damit schleichend einhergehende Entwertung des Wir – wir haben sie gar nicht richtig bemerkt, weil wir andere Sorgen haben. Weil die propagierte und strikt praktizierte Alternativlosigkeit zu einer allmählichen Vereinzelung von zuweilen Gleichgesinnten geführt hat, konnte man uns leicht auseinanderbringen. Wir haben es geschehen lassen. Es tut nicht not, Zwangsgemeinschaften nachzutrauern. Aber mutigen Interessenvertretungen jenseits der Schirme aufspannenden und Rettungspakete schnürenden Politiker schon. Und damit ist weder wohlfeiles Politiker-Bashing und auch keine Anti-Euro-Partei gemeint.

Empört euch!, forderte der greise, weise Stéphane Hessels. Wir lächelten nur etwas abschätzig und hörten nicht auf den alten Franzosen. Wir empörten uns nicht. Und falls doch, dann im stillen Kämmerlein oder am geduldigen Stammtisch. Wir bestaunten die Occupy-Bewegung, den steilen, wenn auch kurzen Aufstieg der Piraten und die Wutbürger in Stuttgart, die sich staatlich verordneter Willkür nicht länger beugten und ein irritierend entschiedenes Wir gegen Wasserwerfer lebten.

Alle für sich und viele zusammen? Das wäre ein schöner Anfang. Ob und was das Wir dann entscheidet, werden wir sehen. Im September zur Bundestagswahl sind wir noch immer das Volk. Das ist nicht nichts.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.