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Nagelstudios allein reichen nicht

Michael Vassiliadis, Chef der Energie-Gewerkschaft, mahnt beim Strukturwandel in der Oberlausitz zu Weitsicht statt Schnellschüssen.

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© Daniel Pilar

Lausitz. Am Donnerstag diskutieren etwa 350 Personen aus Wirtschaft und Politik in Weißwasser beim Lausitz-Forum über den Strukturwandel. Eingeladen dazu hat Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Der Strukturwandel ist im Ruhrgebiet schon viel weiter. Vergleichen lassen sich Ruhrpott und Lausitz aber nur schwer, sagt Michael Vassiliadis (53), Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie.

Herr Vassiliadis, fast täglich geistern immer wieder andere Jahreszahlen zum Braunkohleausstieg durch die Medien. Wie lautet Ihre Zahl?

Ich beteilige mich nicht an solchen Zahlenspielen, und sie sind auch völlig unnötig. Die Planungen des Energiekonzerns Leag und seiner Eigentümer in der Lausitz reichen bis in die 2040er-Jahre. Weiter in die Zukunft gehen die Genehmigungen für den Abbau und die Verstromung von Braunkohle sowieso nicht. Das ist übrigens auch in den beiden anderen Braunkohlerevieren so, im Rheinland und im Leipziger Südraum. Kohleförderung und -verstromung werden nach und nach reduziert, deshalb brauchen wir darüber keine Debatte mehr. Wir wehren uns nicht grundsätzlich gegen eine Reduktion der Verstromung der Kohle, aber gegen die Illusion, es wäre heute schon unabdingbar.

Im Koalitionsvertrag steht aber, dass CDU, CSU und SPD eine Kommission einsetzen wollen, die bis Ende 2018 ein Datum für den Kohleausstieg festlegt.

Sofern ich dieser Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ angehören sollte, werde ich dort die Meinung der IG BCE offensiv vertreten. Für uns steht außer Frage, dass Deutschland noch über Jahrzehnte auf Energieträger wie die Braunkohle angewiesen sein wird, erst recht nach dem endgültigen Atomausstieg 2022. Bis zum Ende dieses Jahres einen Plan für die Neuausrichtung der Energiepolitik vorlegen zu wollen, halten wir für sehr ambitioniert und ein Datum für das Ende der deutschen Braunkohleverstromung, das aus heutiger Sicht verantwortbar wäre, habe ich ja soeben beschrieben.

Warum soll das nicht schneller klappen, die Erneuerbaren legen ja sehr deutlich zu?

Der im Koalitionsvertrag erwähnte Ausbau auf 65 Prozent bis 2030 wäre eine Verdoppelung gegenüber heute. Wenn wir bis dahin nicht dramatische Fortschritte bei Marktfähigkeit, Versorgungssicherheit und Speicherung von Erneuerbaren erreicht haben, schaufeln wir uns ein gigantisches Subventionsgrab. Wenn die Erneuerbaren irgendwann speicher- und damit grundlastfähig sein sollten, also ohne Schwankungen rund um die Uhr eine zuverlässige und preiswerte Energieversorgung gewährleisten können, dann wird die Kohleverstromung zwangsläufig schneller reduziert. Dann gäbe das auch Sinn! Für die Erneuerbaren brauchen wir zuallererst besser ausgebaute und modernere Stromnetze. Die gibt es noch nicht. Deshalb brauchen wir einen Neustart bei der Energiewende mit neuen Prioritäten.

Warum? Was läuft da gerade verkehrt?

Dieses gesellschaftliche Mega-Projekt ist aus dem Ruder gelaufen. Zeitlich, finanziell und hinsichtlich der Wirkung auf den Strommarkt in ganz Europa. Immer häufiger gibt es Noteingriffe ins Stromnetz, um die uneingeschränkte Vorfahrt der Erneuerbaren im Netz abzusichern. Diese Eingriffe kosten Milliarden. Gleichzeitig profitieren Öko-Investoren von Traumrenditen, die wir alle über unsere Stromrechnung bezahlen – selbst dann, wenn ihr Strom gerade nicht gebraucht wird. Allein in diesem Januar haben wir Stromkunden 2,3 Milliarden Euro an Erneuerbare-Energien-Umlage bezahlt. Das ist mehr als das, was durchschnittlich in den Hochzeiten in einem ganzen Jahr in die Subventionen für die deutsche Steinkohle geflossen ist. Diese Ineffizienz zum Wohle weniger und zulasten vieler muss stärker Thema werden.

Ende dieses Jahres schließen die letzten beiden von einst 173 Steinkohlebergwerken, seit Jahrzehnten ist im Ruhrgebiet ein gewaltiger Strukturwandel im Gange. Lässt sich das mit der Lausitz vergleichen?

Ja und nein. In den Folgen schon, aber nicht in der Architektur. Ja, weil das Ergebnis am Ende gleich ist: Die Kohle ist weg, und etwas anderes muss her. Nein, weil die Ausgangslagen ganz anders waren und sind. 1957, zur besten Zeit des Steinkohlebergbaus, zählte die Branche mehr als 600000 Beschäftigte. 600000 Jobs abgebaut in 60 Jahren, das ist auch für eine Region mit mehr als fünf Millionen Einwohnern nicht leicht zu verkraften. Aber immerhin hat man sich die Zeit genommen. Und noch etwas ist zwischen Ruhrpott und Lausitz nicht vergleichbar.

Was meinen Sie konkret?

Der Strukturwandel im Ruhrgebiet war vor allem marktgetrieben. Schwerindustrie und Kohleförderung waren im Vergleich mit anderen Regionen der Welt letztlich nicht mehr eins zu eins wettbewerbsfähig. Wir haben zwar gewarnt, der Preis ist nicht alles, es geht auch um Versorgungssicherheit, aber die Politik hat eine andere Entscheidung getroffen. Ausschlaggebend war aber letztlich der Markt. Das ist bei der Braunkohle anders. Der Markt würde keinen Ausstieg aus der Braunkohle forcieren, weil sie sehr kostengünstig ist. Sie kommt ohne Subventionen aus und kann preiswert verstromt werden. Natürlich bringen interessierte Kreise gern andere Argumente gegen die Braunkohle.

Da könnte man zum Beispiel den Klimaschutz nennen.

Aber der Anteil der deutschen Braunkohlekraftwerke am weltweiten Ausstoß von Kohlendioxid liegt im Promille-Bereich. Es würde dem Weltklima nicht entscheidend helfen, wenn jetzt hier die modernsten Kraftwerke der Welt vom Netz gingen. Wenn die Braunkohle für, sagen wir mal, 70 Prozent des weltweiten Kohlendioxid-Ausstoßes verantwortlich wäre, müsste man sie natürlich sofort stilllegen. Aber so ist es eben nicht.

Im Ruhrgebiet sind heute zahlreiche Dienstleistungsunternehmen ansässig. Ist ähnliches denn künftig auch für die Lausitz denkbar?

Im Ruhrgebiet gibt es Universitäten, Städte wie Duisburg und Bochum haben sich zu europäischen Logistik-Hubs entwickelt, es gibt starke Industrieunternehmen. All das kam auch nicht von heute auf morgen. Ein Strukturwandel ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Wenn wir jetzt schon wissen, dass mit der Braunkohle in den 2040er-Jahren Schluss ist, haben wir die nötige Zeit, um Neues auf den Weg zu bringen. Darüber muss jetzt gesprochen werden, und dazu finde ich eine Veranstaltung wie das Lausitz-Forum geeignet. Neben Zeit benötigt der Strukturwandel übrigens auch Strom. Das sehen wir ja im Ruhrgebiet: Auch nach dem Ende der Steinkohleförderung wird dieser Energieträger weiter verstromt. Nur kommt die Kohle jetzt zum Beispiel aus Russland, Kolumbien und den USA – zu großen Teilen aus Regionen, deren Arbeits- und Sicherheitsbedingungen mit den deutschen nicht ansatzweise mithalten können.

In welchen Branchen sehen Sie die Zukunft der Lausitz?

Also, wenn wir uns mal die Pros und Kontras der Region vor Augen führen, dann haben wir als großes Pro eine gewachsene Industrieregion mit einer hohen Akzeptanz für industrielle Produktion. Jeder weiß, von Nagelstudios und Baumärkten kann die Lausitz nicht leben. Kaum jemand aus der Region würde Widerstand leisten, wenn eine große industrielle Ansiedlung käme. Das haben wir nicht überall in Europa, und Investoren berücksichtigen so etwas. Bevor sie investieren, machen sie sich aber auch über die Kontras einer Region kundig. Und dazu zählen die verbesserungswürdige Verkehrsanbindung und das noch nicht flächendeckend vorhandene schnelle Internet. Aber das sind alles Kontras, die sich abstellen lassen. Mithilfe von Staatsgeld, denn der Staat will ja letztlich diesen Strukturwandel. Natürlich muss man für die Region werben, damit Investoren auf sie aufmerksam werden.

Woran denken Sie da? Faltblätter, Radiowerbung, Zeitungsannoncen?

Ich will eine große Investorenkonferenz, auf der gesagt wird: Das und jenes haben wir hier an attraktiven Standortargumenten, und an diesen und jenen Dingen arbeiten wir. Dann halte ich beispielsweise Investitionen für denkbar, wenn jetzt eine Elektromobilitäts-Offensive kommt. Die Lausitz ist eine Energieregion und muss das auch bleiben, die Kompetenzen sind vorhanden. Wie man sie nutzt, darüber muss ganz konkret gesprochen werden. Die Zeit dafür ist ja da. Ich habe es ziemlich satt, dass über den Zeitpunkt des Kohleausstiegs ganz detailliert gesprochen wird, über das Danach aber nur ganz vage und unkonkret.

Das Gespräch führte Tilo Berger.