Von Stefan Lehmann
Zeithain. Vom Krieg erzählte der Vater nicht gerne. „Es hieß sehr häufig: Darüber will ich nicht reden“, erinnert sich Richard Stead, während er langsam zum Monument auf dem Gelände der Zeithainer Gedenkstätte Ehrenhain spaziert. „Meiner Erfahrung nach ist das bei vielen Männern so gewesen, die im Krieg gekämpft haben.“ Weil George Henry Stead so beharrlich schwieg, erfuhr sein Sohn erst nach dessen Tod die ersten Details aus dessen Kriegsgefangenschaft – und seiner Verbindung nach Mühlberg und Zeithain. Nun steht er hier und blickt auf das Monument, an dem Angehörige ehemaliger Gefangener und ranghohe Vertreter aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Kränze und Blumen niederlegen. Es ist der 73. Jahrestag der Befreiung – und Richard Steads erster Besuch in der Gedenkstätte. „Bis vor ein paar Monaten wusste ich nichts von Zeithain. Mein Vater hatte nie davon erzählt.“ Und das, obwohl er hier und im nahegelegenen Lager in Mühlberg die Hälfte seiner Kriegsgefangenschaft verlebte.
Mit 14 zum Militär
George Henry Stead, geboren am 22. April 1918, fast auf den Tag genau vor 100 Jahren, sei ein Militär durch und durch gewesen. Nach seinem 14. Geburtstag schlägt er als Kadett die Militärlaufbahn ein. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Stead in Nordafrika eingesetzt. Die britische Armee kämpft dort zunächst gegen Italien, ab 1941 auch gegen deutsche Verbände.
„Mein Vater wurde im Januar 1942 in einer der Schlachten in der Westlichen Wüste verletzt und blieb beim Rückzug der Armee zurück“, erklärt Richard Stead. „So kam er zunächst in italienische Kriegsgefangenschaft.“ Dort wird dem Soldaten eine gute Behandlung zuteil. Die Rückenverletzung, die er sich in der Schlacht zugezogen hat, heilt vollständig aus. Dann allerdings scheidet Italien aus dem Krieg aus – und der Engländer wird nach Deutschland verlegt. Genauer, nach Zeithain.
Wie dem Soldaten Stead ergeht es 1943 vielen Soldaten, erklärt Jens Nagel, der Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain. „Ende September waren laut Erinnerungsberichten ehemaliger britischer Kriegsgefangener 1 500 bis 2 000 Gefangene unmittelbar nach ihrer Ankunft am Bahnhof Jacobsthal in Zeithain untergebracht.“ Wie viele es genau waren, lässt sich nicht sagen. Doch im Stammlager (Stalag) IV B Mühlberg und dem Zweiglager Zeithain sei zwischen September und Oktober die Zahl britischer Gefangener von 212 auf mehr als 14 000 gestiegen.
Mitte September 1943 erreicht George Henry Stead gemeinsam mit anderen Gefangenen den Bahnhof Jacobsthal. Von dort aus geht es für den Unteroffizier ins nahe gelegene Stalag IV B Mühlberg. Die Gefangenen werden registriert. Aus George Henry Stead wird Gefangener IV B/227 236.
Aus dem Lager heraus schreibt Stead Briefe in die Heimat, vor allem an seine Mutter und an seine Freundin Aileen. Sie sind kurz und direkt, erzählt sein Sohn. „Es war wohl schwierig, in dieser Kürze über seine Gefühle zu berichten.“ Aus einem der Briefe spricht die Zuversicht, wieder nach Hause zu kommen: 100 Pfund schickt der Soldat an seine Mutter. „Das muss damals ein halbes Vermögen gewesen sein.“ In dem Schreiben weist er seine Mutter an, das Geld seiner Liebsten zukommen zu lassen: „Sie soll davon einen Ring kaufen – wir werden heiraten.“ – Details zur Gefangenschaft seines Vaters in Zeithain und Mühlberg hat Peter Richard Stead neben den Briefen in erster Linie aus den offiziellen Akten entnommen. „Die sind erstaunlich akkurat“, sagt der 68-Jährige. Zu lesen war dort beispielsweise, dass er den Wachmännern im Lager gerne Probleme bereitete und mehrmals dafür bestraft worden sei – vermutlich mit verschärftem Lagerarrest. „Das war eine Pflicht der Gefangenen“, erklärt Stead. Das Kalkül dahinter: Je mehr Männer benötigt wurden, um Kriegsgefangene zu bewachen, desto weniger Soldaten stünden für die Front zur Verfügung.
Verglichen mit den sowjetischen Soldaten, die in Zeithain und Mühlberg die Mehrheit der Kriegsgefangenen ausmachten, wurde den britischen Soldaten eine gute Behandlung zuteil. „Ihre Behandlung entsprach den Bestimmungen der Genfer Konventionen von 1929“, erklärt Jens Nagel. „Es gab regelmäßige Kontrollbesuche durch Abgeordnete des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, Diplomaten der Schweiz als Vertreter der von Großbritannien benannten Schutzmacht, den Austausch von schwer kranken oder verletzten Gefangenen sowie Postverkehr mit der Heimat.“ Unteroffiziere wie Stead mussten auch nicht außerhalb des Lagers arbeiten. Gröbere Verletzungen der Genfer Konvention habe es in Bezug auf die Gefangenen aus dem britischen Commonwealth nicht gegeben. Bei den Soldaten der Roten Armee sah das völlig anders aus. Allein in Zeithain starben zwischen 25 000 und 30 000 von ihnen, meist als Folge der schlechten Versorgung mit Medikamenten und insbesondere mit Nahrungsmitteln. „Der Tod war einkalkuliert“, sagt Historiker Jens Nagel. Dagegen ist kein einziger Todesfall unter britischen Soldaten in Zeithain bekannt. Der Tod drohte ihnen hingegen, wenn sie zu fliehen versuchten – wofür insbesondere die Soldaten aus Großbritannien und dessen Überseegebieten bei den Wachmännern berüchtigt waren. Zwar sah die Genfer Konvention für Fluchtversuche nur relativ leichte Strafen vor, doch galt ab März 1944 der sogenannte Kugelerlass. Der führte dazu, dass eine Reihe britischer Offiziere und Unteroffiziere im Konzentrationslager erschossen wurde.
George Henry Stead allerdings übersteht die Zeit in deutscher Gefangenschaft. Am 22. April 1945 wird er 27 Jahre alt. Nur einen Tag später befreit die Rote Armee das Lager Zeithain. „Ich bin mir sicher, dass er für dieses Geburtstagsgeschenk gerne noch einen Tag länger gewartet hat“, sagt sein Sohn. Schon kurz nach der Befreiung ist George Henry Stead wieder in der britischen Heimat. Wenige Tage später endet mit der deutschen Kapitulation der Zweite Weltkrieg in Europa. Stead bleibt noch viele Jahre Soldat, ist unter anderem in Asien stationiert. Seine Verlobte Aileen heiratet er drei Monate nach der Rückkehr aus dem Krieg. Das Paar bekommt drei Kinder, die allesamt in Militärkrankenhäusern zur Welt kommen. Soldaten werden Peter Richard Stead und seine Geschwister trotzdem nicht. „Ich bin Chemiker, meine Schwester arbeitet mittlerweile im Bildungssektor, und mein Bruder macht in Versicherungen.“ Erst im Jahr 1973 scheidet George Henry Stead aus dem Militärdienst aus, im Rang eines Majors. Im Alter von 80 Jahren stirbt er in seiner englischen Heimat. Warum er bis zuletzt nur widerwillig über die Zeit im Krieg berichtet, darüber kann auch sein Sohn Richard nur rätseln. „Vielleicht schmerzte ihn die Erinnerung an diejenigen, die den Krieg nicht überlebt haben.“