Von Marcel Pochanke
Sacre nennt das Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theater seinen Sommer-Tanzabend im Stadthallengarten. Es ist ein doppelter, mit dem titelgebenden berühmten Frühlingsopfer von Igor Strawinsky und dem selten getanzten „Rendering“ von Luciano Berio. Ein Wagnis ist es, im publikumsträchtigen Sommer mit Werken, denen das Moderne so (ehr-)furchteinflößend anhaftet, an den Start zu gehen. Dazu sei sogleich bemerkt: Das Wagnis geht auf, die Ränge waren bei der Premiere am Sonnabend prächtig gefüllt und bunt gemischt. Die für „Sacre“ zuständigen Görlitzer Haus-Choreografen Dan Pelleg und Marko E. Weigert müssen ohnehin nicht mehr beweisen, dass sie Anspruch und Publikumserfolg miteinander verbinden können. Auch der neue Tanzabend hat gute Chancen, diese Geschichte fortzuschreiben.


Gleichzeitig muss man jenen, die etwa Strawinskys Meisterwerk mit hohen Erwartungen verknüpfen, Entsprechendes bieten. Pelleg und Weigert nehmen die Handlung um das Mädchen, das rituell geopfert wird, frisch auseinander. An die Stelle der einen setzen sie ein Paar, das sich schon vor dem ersten Ton küsst und fortan immer wieder unter Aufbietung aller körperlichen Kräfte an der Vereinigung gehindert wird. „Sacre“ in Görlitz will dabei jene Strenge vermeiden, die ihm in seiner hundertjährigen Aufführungsgeschichte oft einchoreografiert wurde. Das ist eine achtbare Entscheidung, birgt aber die Gefahr, das Stück zu entleiben: Dramen statt Drama. Das Publikum staunt und entdeckt, aber es sitzt nicht recht im Boot. Dabei zeigen die Tänzer viel Können und variantenreiche Körpersprache, genährt vom Ideenreichtum der Choreografen. Doch es sind die klaren Bilder, die opfergetränkten Szenen, die den größten Eindruck machen.
Von der Neuen Lausitzer Philharmonie mit der freilufterfahrenen Judith Kubitz am Pult gehen zunächst wenige Impulse aus. Sacre, dieses Fanal, die mögliche Urkraft der Musik aus einer anderen Welt, klingt mitunter brav und beinahe impressionistisch – also zumindest sehr anders, als vom Komponisten intendiert. Das liegt auch am Bühnenbild von Nicola Minssen, der einen dreiteiligen Holztresen – oder ist es ein Altar? – quer über die Bühne und damit dämpfend vor das Orchester stellt. Dennoch ist „Sacre“ ein ästhetisch anspruchsvolles und ansprechendes Erlebnis, aber eher ein Vorspiel für den eigentlichen Höhepunkt des Abends: „Rendering“.
Franz Schuberts zehnte und letzte Sinfonie, noch viel unvollendeter als die Unvollendete, aufgegriffen durch einen furchtlosen Komponisten des 20. Jahrhunderts – da ist eine märchenhafte, klassische Vertanzung beinahe wieder eine moderne Brechung. Weigert und Pelleg forderten und formten selten so viel herkömmliche Ballettschule, verpackt in die überraschenden Kostüme von Minssen. Inhaltlich haben sie die Geschichte „von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“, aufbereitet. Kopflose, Bucklige, Einäugige tanzen vor, die Körper der Compagnie dürfen sich ins Monströse tasten, und der, der auszog, charismatisch und ausdrucksstark von getanzt von Martin Schultz Kristensen, wundert sich nicht einmal. Im Duett mit MengTing Liu entstehen Spannung und wirkliche darstellerische Tiefe. Das Ergebnis ist Zuschauertheater, durchaus familienfreundlich, ohne banal zu werden. Bei dieser gelungenen Gratwanderung ist auch die Philharmonie unter Judith Kubitz Teil der Seilschaft. Luciano Berios Ausdeutung von Schubert macht den Musikern und ihrer Chefin sichtlich Freude.
Dieses Mal muss keiner sterben, auch das köstliche Monsterchen nicht, das Choreograf Dan Pelleg selbst tanzen lässt. Aber das ist nicht der Hauptgrund für den lang anhalten Beifall, den das Ensemble des Gerhart-Hauptmann-Theaters für Sacre mit in den Sommerabend nehmen durfte.
Nächste Vorstellungen: 7., 8. und 9. Juli, jeweils 20 Uhr. Kartentelefon: 03581 474747