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Wann wird Handykonsum zur Sucht?

Einfach mal auf das Smartphone verzichten - für viele ist das im Alltag unvorstellbar. Es gibt besondere Risikogruppen.

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Dr. Jessika Weiß
Dr. Jessika Weiß ©  PR

Das Handy ausschalten und einfach mal für Stunden nicht erreichbar sein. Wer denkt, dass sich damit vor allem Kinder und Jugendliche schwertun, irrt. Zwar wachsen sie heute ganz selbstverständlich mit Smartphones und Tablets auf und sind deshalb suchtgefährdet, sagt Dr. Jessika Weiß, stellvertretende Direktorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Die Ärztin erlebt aber auch, dass Eltern nicht selten schlechte Vorbilder sind. Im SZ-Interview erklärt sie, wann der Handykonsum alarmieren sollte und wie Eltern Warnsignale erkennen können.

Frau Weiß, wie definieren Sie Handysucht?

Das ist schwierig. Bei der offiziellen Klassifizierung körperlicher und psychischer Erkrankungen kommen in unserem Gesundheitssystem Handy- oder auch Onlinesucht nicht vor. Zumindest noch nicht. Ein Kriterium für das Vorliegen einer Suchterkrankung sind Entzugserscheinungen, sobald man den Suchtstoff nicht mehr konsumieren kann. Und wenn andere Dinge über die Sucht vernachlässigt werden – zum Beispiel Schule oder Beruf, Körperhygiene, Essen und Trinken, aber auch die Verschiebung des Wach-Schlaf-Rhythmus‘. Handysucht lässt sich trotz allem schwer abgrenzen, weil die Übergänge in den Alltag so fließend sind.

Für Sie ist übermäßiger Handykonsum aber in jedem Fall eine Erkrankung?

Wenn ich das entscheiden dürfte, würde ich Handysucht als Krankheit klassifizieren. Die psychische Abhängigkeit ist sehr groß, vom Handy kommt man genauso schwer los wie von anderen Süchten.

Wie viele Patienten haben Sie, die handysüchtig sind?

Offiziell haben wir keine, weil es eben keine klassifizierte Erkrankung ist. Was wir aber sagen können ist, dass Handysucht meist nie allein auftritt. Vielfach kommen Begleiterkrankungen wie Depressionen und Ängste hinzu oder Probleme mit Gleichaltrigen, die in Richtung einer sozialen Phobie gehen.

Gibt es Risikogruppen?

Das sind Kinder und Jugendliche, die wenig reale Freundschaften haben. Die zwar Mitschülern in der Schule begegnen, aber sonst sehr wenig soziale Beziehungen haben. Jene, bei denen alle Freizeitaktivitäten über das Handy laufen. Auch Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl sind gefährdet, die sich von der Meinung anderer sehr abhängig machen. Sie haben zum Beispiel das Gefühl, dass sie immer online sein müssen, weil die anderen sie sonst nicht mehr mögen, wenn sie nicht sofort auf eine Nachricht reagieren.

Wie kann man sich selbst oder können Eltern ihr Kind überprüfen: Wann ist der Handykonsum zu viel?

Das ist eine spannende Frage. Wir erleben oft, dass Eltern sagen, ihre Kinder seien zu viel mit dem Handy beschäftigt. Aber wenn es darum geht, das Handy am Abend auszuschalten und ganz wegzulegen, um Zeit mit der Familie zu verbringen, haben die Erwachsenen meist das größere Problem. Man kann sagen, sobald man das Gefühl hat, man kann nicht mehr ohne, sollte man hellhörig werden. Wenn ich unter Druck gerate, wenn das Handy lautlos ist oder nicht in Reichweite, sind das auch Alarmsignale. Man kann bei Handysucht aber nicht sagen, zwei Stunden sind in Ordnung und alles darüber ist pathologisch. Dafür ist das Handy zu sehr ein Alltagsgegenstand.

Inwiefern verändert Handysucht die Persönlichkeit?

Dass schafft auch hoher Handykonsum allein nicht. Ich würde eher sagen, dass Handysucht psychische Erkrankungen oder Persönlichkeitsauffälligkeiten verfestigt. Zum Beispiel wenn man sich immer mehr aus dem realen Alltag zurückzieht.

Welche Empfehlung geben Sie Eltern? Ab wann und wie sollten Kinder mit Handys in Berührung kommen?

Eigentlich sollte man sagen, am besten so spät wie möglich. Es gibt aber natürlich einen gesellschaftlichen Druck. Wenn ein Kind als einziges kein Handy hat, wird es eventuell zum Außenseiter, weil es nicht mitbekommt, wenn die anderen sich verabreden. Deshalb ist vor allem die Begleitung wichtig. Eltern müssen ihre Kinder schulen, auf Gefahren aufmerksam machen und vor allem Regeln aufstellen. Zum Beispiel, dass das Kind das Handy zum Schlafen nicht mit aufs Zimmer nimmt. Oder dass es bei gemeinsamen Mahlzeiten und wenn Hausaufgaben gemacht werden, ausgeschaltet ist. Und man sollte nicht vergessen: Gute Vorbilder sind sehr wichtig.

Eltern sind das nicht immer?

Nein. Wie erleben in Familiengruppen im Rahmen von Verhaltensexperimenten, dass sich Eltern schwerer als ihre Kinder tun, 24 Stunden auf das Handy zu verzichten. Die Erwachsenen diskutieren darüber viel mehr, weil sie das Gefühl haben, erreichbar sein zu müssen. Wenn sie länger darüber nachdenken, stellen sie aber meist fest: Das erwartet mein Chef ja gar nicht wirklich von mir. Und trotzdem schaffen Sie es dann nicht, sich auf das Experiment einzulassen.

Was macht Handysucht so gefährlich?

Vor allem der Fakt, dass sie meist ein nachgelagertes Phänomen ist. Patienten kommen wegen anderen Dingen, und dann stellt sich heraus, dass ihr Medienkonsum sehr problematisch ist. Das macht die Erkrankung so tückisch. Dazu kommt, dass eine komplette Abstinenz mit der Realität kaum vereinbar ist, damit wird es aber viel schwerer, weil die Versuchung immer da ist.

Hoher Handykonsum steht in dem Ruf, einsam zu machen. Jugendliche argumentieren häufig dagegen, dass sie das Handy viel intensiver mit der Außenwelt verbindet. Was sagen Sie dazu?

Das sie eine Verbindung empfinden, die nicht echt ist. Zur sozialen Kompetenz gehört auch, Freundschaften in verschiedene Vertrauensstufen einzusortieren. Die Frage, wie viel ich einem Freund anvertrauen kann, beantwortet sich nicht im Internet, sondern im realen Leben. Hinzu kommt: Kommuniziert jemand nur im Netz, fallen ihm reale Gespräche schwer, weil er keine Zeit hat, an der perfekten Antwort zu feilen. Ich erlebe durchaus, dass sich Gleichaltrige keine fünf Minuten unterhalten können, weil sie mit dem Tempo von direkter Rede und Gegenrede überfordert sind. Damit steigt die Angst vor echten Beziehungen. Solange es aber noch reale Beziehungen bei einem Kind, Jugendlichen oder auch Erwachsenen gibt, können sich Eltern erst einmal entspannen. Es sollte sich nur nicht alles in Internet verschieben.

Das Interview führte Melanie Schröder

Weitere Texte zum ersten Teil der Challenge „Eine Woche ohne Handy“:

Eine Woche ohne Handy - Tag 1

Handy-Verbot an vielen Schulen