Von Jonas Gerding
Christoph Jentzsch ist kein Frühaufsteher. Oft schreibt er bis spät in die Nacht an Computer-Codes. Als seine Frau ihn am 17. Juni vergangenen Jahres bereits gegen sieben Uhr morgens weckt, ahnt er daher bereits, dass er endgültig die Kontrolle verloren haben muss über das von ihm geschaffene „Gemeinschaftskonto“, wie er es beiläufig nennt. Noch lieber bezieht sich Jentzsch sogar schlicht auf die „DAO“, abgeleitet von der technisch korrekten Bezeichnung „Decentralized Autonomous Organization“. Dabei könnte der 32-Jährige auch vom größten Crowdfunding aller Zeiten sprechen, das 150 Millionen Dollar eingesammelt hat – oder von einem revolutionären Investmentfonds, basierend auf einer als absolut sicher geltenden Technologie.
Ausgerechnet die hatte ein Hacker jedoch attackiert, erfuhr Jentzsch an jenem Sommermorgen. Nach und nach zog er Geld ab. Schließlich sollten es 50 Millionen Dollar werden. Das Desaster war eingetreten, vor dem sich Jentzsch zuvor gefürchtet hatte – als der Kontostand Woche für Woche um Summen wuchs, auf die er nicht vorbereitet gewesen war. Nach dem anfänglichen Schock habe er deshalb auch Erleichterung verspürt. „Endlich ist alles vorbei“, dachte er.
Würde es sich um eine gewöhnliche Branche handeln, wäre es mit der DAO auch um die Karriere des 32-Jährigen geschehen. Doch Christoph Jentzsch, der gemeinsam mit seinem zehn Jahre älteren Bruder Simon Jentzsch vor zwei Jahren das Unternehmen Slock.it gegründet hat, gehört weltweit zu den Pionieren einer der meist gehyptesten Technologien: der Blockchain.
Bisher waren Datenbanken für gewöhnlich im Besitz einzelner Unternehmen. Sie konnten die gespeicherten Informationen verwalten – und nachträglich ändern. Bei der Blockchain hingegen verbinden Tausende Privatpersonen und Firmen weltweit ihre Computer über das Internet und schaffen eine gigantische Datenbank.
Das Besondere: Soll eine Information geändert werden, wird sie nicht überschrieben, sondern eine zusätzliche Nachricht hinzugefügt. Wie in einem E-Mail-Verlauf sind die vorherigen Nachrichten archiviert. Die Beteiligten können stets die gesamte Informationskette lesen – aber nichts daran im Nachhinein umschreiben. Revolutionär sei diese neue Form der Transparenz und Fälschungssicherheit, verkünden manche daher.
Noch wird diskutiert, ob die Technologie tatsächlich die Macht hat, die Wirtschaft umzukrempeln. Die beiden Brüder aus Mittweida haben indes einfach losgelegt – und neben der DAO mit digitalen Türschlössern, einer Spendenplattform und Ladestationen für E-Autos experimentiert.
Christoph Jentzsch ist in Mittweida aufgewachsen. Vom großen Bruder inspiriert, begann er im Alter von etwa 12 Jahren mit dem Programmieren. Er studierte Informatik in Dresden, brach aber die anschließende Doktorarbeit ab, weil zu viele Aufträge seine Zeit forderten. Euphorisiert von der Blockchain-Technologie, heuerte er bei einem der bekanntesten IT-Firmen der Sparte an: dem Schweizer Unternehmen Ethereum. Als Prüfer ihrer Software konnte er weiterhin in Mittweida leben, wo er eigene Prototypen entwickelte.
Auf seinem Schreibtisch platziert Jentzsch einen Türgriff, der sich allein mit dem Smartphone öffnen lässt. „Mit einem ähnlichen System lassen sich auch Fahrradschlösser lösen und Waschmaschinen in einer WG aktivieren“, erklärt Jentzsch. Wer verreist, könne Fremden Wohnung und Rad überlassen und derweil genau nachvollziehen, wer sich wie lange registriert. Die Bezahlung würde automatisch ablaufen – ohne herkömmliche Banken oder die etablierten und kommerziellen Online-Portale.
Auch in anderen Branchen bieten erste Unternehmen Dienstleistungen auf Grundlage der Blockchain an. IBM und eine Containerschiff-Reederei etwa möchten Transportwege aufzeichnen, die Deutsche Bank und die Commerzbank experimentieren mit der Abwicklung von Finanztransaktionen, und die Dresdner Software-Berater von faizod bieten Industrieunternehmen an, deren Produktionsschritte zu dokumentieren.
„Noch sind das meist Nischenanwendungen“, sagt Philipp Sandner. „Bitcoin ist nach wie vor die bekannteste“, sagt der Professor der Frankfurt School of Finance and Management über die virtuelle Währung. An ihr werden auch die Vorteile der Blockchain deutlich: Werden Geschäfte allein über die Blockchain abgewickelt, können Banken als Vermittler zwischen Käufer und Verkäufer komplett wegfallen. Transaktionen im Finanzsektor werden sofort und nicht erst nach Tagen wirksam. In bestimmten Fällen müssten Bezahlvorgänge nicht einmal persönlich getätigt werden. Sie laufen automatisch ab, wenn die konkreten Bedingungen im Vorfeld festgelegt wurden. Sandner möchte mit dem neu gegründeten „Blockchain Center“ die Entwicklung wissenschaftlich begleiten. „Die Technologie ist absolut bahnbrechend“, betont er – und positioniert sich damit deutlich in der laufenden Fachdebatte.
„Wir sollten das mit einer gesunden Skepsis betrachten“, erwidert hingegen Ingo Beyritz vom Bundesverband deutscher Banken. „Grundsätzlich löst man damit kein Problem, für das wir nicht heute schon Technologien zur Verfügung hätten.“ Die Blockchain sei ein Instrument unter vielen, das auch Nachteile habe. Der enorme Verbrauch von Speicherkapazität beispielsweise.
Gründer Jentzsch hält sich nicht mit derlei Diskussion auf. Er suchte nach konkreten Finanzquellen für Blockchain-Projekte. Da kam ihm die unkonventionelle Idee des digitalen „Gemeinschaftskontos“: der DAO. Dafür müssen Nutzer Geld in eine virtuelle Währung eintauschen, das sie dann anonym auf die DAO überweisen. Damit erkaufen sie sich Stimmrechte für die Frage, wohin das gesammelte Geld fließen soll. „Ich habe das sehr offen gelassen“, sagt Jentzsch, der Ende 2015 den Programmcode geschrieben hat. Wie ein Fonds hätte die DAO in Unternehmen investieren können – also auch in Produkte von Slock.it selbst.
Schon bald nach dem Start im April 2016 berichteten internationale Medien wie die New York Times. Die Zeit rühmte die DAO als „erste Firma ohne Menschen“. Innerhalb von wenigen Monaten flossen 150 Millionen Dollar in ihre Kasse. „Ihr seid des Wahnsinns“, dachte Jentzsch, der mit „nicht mehr als zwei, drei Millionen Dollar“ gerechnet hatte.
Zwar beauftragte Jentzsch Sicherheitsexperten mit der Prüfung. Eine Lücke haben aber auch sie übersehen. Was nach jenem 17. Juni geschah, an dem der Hacker 50 Millionen Dollar auf ein Unterkonto zu transferieren begann, bezeichnet die Computerszene heute als „DAO Wars“: Ein Meinungskrieg entbrannte über die Frage, ob es den Initiatoren erlaubt sei, den Programmcode der DAO umzuschreiben. 27 Tage hatten Jentzsch und Team Zeit, an einer Lösung zu arbeiten – so lange konnte der Hacker aus technischen Gründen nicht auf das Geld zugreifen.
„Ich stand unter extremem Druck“, sagt Jentzsch heute. Er beriet sich mit seinem Team und holte sich rechtliche Hilfe. „Das ist ein Graubereich, der weder erlaubt noch verboten ist“, sagt Jentzsch, dessen Sorgen auch die Fachleute nicht ganz zerstreuen konnten. Und er fürchtete strafrechtliche Folgen. „Gefühlt stand ich mit einem Bein bereits im Gefängnis.“
Schließlich schufen Jentzsch und sein Team eine Art Währungsreform: Sie programmierten ein Update der DAO. Wer es installiert, überführt das Geld in eine zweite, sichere DAO. Zu einem fixen Kurs konnte das Geld wieder zurückgetauscht werden. Die DAO geriet dennoch zu einem Fiasko – und führte zu einem Vertrauensverlust für die Blockchain-Technologie, die ihr wichtigstes Versprechen nicht mehr einlösen konnte: das auf Sicherheit. Blockchain-Experte Sandner sieht das dennoch gelassen: „Das ist der ganz normale Schluckauf einer neuen Technologie“, sagt er.
„Die Blockchain ist wie der wilde Westen“, räumt auch Jentzsch bei einem Vortrag ein. Er ist zurückgekehrt an die Fakultät für Informatik an der TU Dresden. Beim sogenannten „Blockchain Meetup“, einem regelmäßigen Treffen von IT-Interessierten, lässt sich beobachten, wie wenig die Wunden der „DAO Wars“ verheilt sind. Jentzsch verteidigt den Eingriff der Rettungsaktion. „Das ist wie in einer Demokratie“, sagt er. Niemand sei dazu gezwungen worden, das Update zu installieren. „Viele haben die Entscheidung nicht aus Überzeugung mitgetragen, sondern weil sie keine Wahl hatten“, widerspricht einer der Zuschauer.
Ob der Hacker denn wenigstens geschnappt wurde? „Mir ist das egal, ich kümmere mich darum nicht“, sagt Jentzsch schmallippig. Ihm sei nicht einmal die Höhe der Summe bekannt, die schließlich in nichtvirtuelles Geld umgetauscht wurde. „Sicher hat er einiges abgeräumt“, sagt er knapp und fügt nachdenklich hinzu: „Vielleicht hat er es auch verdient.“ Klar, ihm wäre es lieber gewesen, wenn der Hacker die Sicherheitslücke nur höflich mitgeteilt hätte. Aber immerhin gebe es einen kleinen positiven Aspekt des Angriffs: „Das ist sicherlich ein Fehler gewesen, den jetzt keiner mehr macht.“
Seiner Firma hat der Fehler nicht geschadet: „Wir sitzen an einem gedeckten Tisch“, kommentiert Jentzsch die vielen Anfragen und Projektideen, die Slock.it nicht alleine bewältigen kann. Zwar hat sogar ein ITler das Hightech-Mekka Silicon Valley für einen Job in Mittweida verlassen. Jentzsch ist jedoch immer noch auf der Suche nach Fachleuten, um das Team in Mittweida von sieben auf 15 Personen aufzustocken.
Die Finanzierung für neue Projekte steht, seitdem sich US-Investoren mit zwei Millionen Dollar beteiligen. Eines davon hat das Bundesverkehrsministerium im vergangenen Herbst mit dem deutschen Mobilitätspreis ausgezeichnet. Innogy, ein Tochterunternehmen des Energiekonzerns RWE, stattet ab April rund 1000 Ladestationen für E-Autos mit Software von Slock.it aus. Wer seine Batterie lädt, schließt den Zahlungsverkehr über die Blockchain ab. „In Zukunft könnten nicht nur das Laden, sondern auch Maut- und Parkgebühren über die Technologie abgewickelt werden“, schwärmt Jentzsch von der „großen Vision“, die er verfolge: einem Netzwerk, an dem sich auch Privatleute beteiligen können – beispielsweise, indem sie Autofahrern eigene Ladestationen anbieten. Alles vollautomatisiert.
„Ich glaube nach wie vor an dezentrale und autonome Systeme“, beteuert Jentzsch trotz des Desasters, das seine erste DAO erlitt. Mit der Blockchain verbindet er die Utopie einer transparenteren Welt, in der jeder mitbestimmen kann. Deshalb hat Jentzsch begonnen, an der sogenannten Charity DAO zu tüfteln. Wer über die Plattform an Wohltätigkeitsorganisationen spendet, soll nachvollziehen können, wohin das Geld fließt, wirbt er. „Die Idee dahinter ist es, wieder Vertrauen für die DAO zu schaffen.“