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Warum "Miss Bürgerbühne" jetzt abtritt

Miriam Tscholl hat das Laientheater am Dresdner Staatsschauspiel etabliert. Nach 51 Produktionen gibt die Regisseurin die Leitung nun aber ab.

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Miriam Tscholl will sich neuen Herausforderungen stellen.
Miriam Tscholl will sich neuen Herausforderungen stellen. © dpa

Von Simona Block

Die klassischen Bretter, die die Welt bedeuten, sind Miriam Tscholl zu wenig. Die aus Freiburg (Baden-Württemberg) stammende Regisseurin sucht die Herausforderung im Experiment. Seit 2009 machte sie am Dresdner Staatsschauspiel Theater an ungewohnten Orten, brachte Laien und brisante Themen aufs Tableau. Zehn Jahre nach der Gründung hat die 45-Jährige ihr Projekt nun verlassen, das sich auch dank ihrer Ideen und ihrer Energie zur vielbeachteten Institution entwickelt hat. "Miss Bürgerbühne" will sich neuen Herausforderungen stellen.

"Es gab ja mit dem Bürgerchor eine gewisse Tradition in Dresden, die Volker Lösch begründet hatte", erinnert sich Tscholl. Der damals neue Intendant Wilfried Schulz fragte sie 2009, ob sie eine Bürgerbühne aufbauen wolle. "Eine Initialzündung für partizipatives Theater, inspiriert durch Rimini-Protokoll, Christoph Schlingensief und das Kinder- und Jugendtheater." Es sei Theater für die Stadt aus der Stadt. Die junge Regisseurin war elektrisiert - und legte los.

"Der Begriff Bürgerbühne ist ein ganz breiter geworden", sagt Tscholl. Unter dem Dach des Dresdner Staatsschauspiels wurde es 2009 erstmals zur eigenen Sparte. Dort können sich spielfreudige Bürger selbst und ihre Fragen und Probleme in professionellen Inszenierungen darstellen. Es habe sich inzwischen an vielen Theatern im In- und Ausland als Marke oder Sparte etabliert - von Düsseldorf bis Graz, von Aalborg bis Bruchsal, schrieb die künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, Hortensia Völckers, im Grußwort zum Europäischen Bürgerbühnenfestival mit Produktionen aus zehn Ländern im Mai.

Für Tscholl war das Theater früh ein Traum, aber in ihrer Kleinstadt hatte beruflich niemand damit zu tun. So studierte sie zunächst Architektur, erst mit 25 kam sie zu Theater- und Kulturwissenschaft. Das Studium, ein Mix aus Theorie und Praxis, legte dann auch die Grundlage für den Umgang mit nicht-professionellen Darstellern. "Die größte Herausforderung war, nicht immer nur ein spezielles Klientel zu haben, sondern sowohl Ränder als auch Mitte einzubeziehen."

Arbeitslose, Menschen mit Doktortitel, Fußballfans, Alternative, Traditionshüter, Ost und West, Tscholl machte mit fast allen Theater. "Kontraste und Gegensätze waren mir wichtig und das Reden über politisch schwierige Fragen." Das sei nur manchmal gelungen. Ihre Erfahrungen hat sie stets weitergegeben. Zum Abschied rollte ihr das Staatsschauspiel den roten Teppich aus zur Party unter dem Motto "T(scholl) war's" - Dank von Intendant Joachim Klement inklusive. Ab sofort übernimmt ihr Kollege Tobias Rausch, der seit 2016 am Haus ist.

"In ganz Europa bieten Bürgerbühnen dem Publikum eine Stimme, ein Höchstmaß an Beteiligung und sorgen für eine Ermächtigung des Zuschauers", sagt Klement. Ihr sei, angetrieben von der Neugier auf Menschen und dem Glauben an die Kraft der Begegnung, "ein Akt der Demokratisierung auf der Bühne gelungen", lobte die sächsische Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange (SPD). Für die Etablierung des Montagscafés als Treffpunkt für Geflüchtete und Dresdner wurde Tscholl 2017 vom Bundespräsidenten geehrt.

Die Liste ihrer Bürgerbühne-Erfolge reicht von Klassikern wie "Anatevka", "Romeo und Julia" und einem Schiller-Projekt über Kafka, Fassbinder und Elfriede Jelinek bis zum intergalaktischen Spektakel "Der Fall aus dem All" in der Sächsischen Schweiz mit der Landschaft als Bühne und Dorfbewohnern als Akteuren. Auch Verheiratete, Männer in der Midlife-Krise, Dynamo-Fans oder Dresdner mit arabischen Wurzeln kamen zu Wort. Die Odysseus-Story wurde mit Geflüchteten erzählt und der Freikörperkultur (FKK) gefrönt, mit einer Frauenkörperkomödie.

"Es braucht ein starkes Interesse am Gegenüber, man muss zuhören und risikobereit sein, um seine Vision umzusetzen", beschreibt Tscholl die Herausforderungen. Mit Schulkooperationen hat sie mit der Bürgerbühne auch Kindern und Jugendlichen einen Zugang zum Theater geschaffen, die sonst nicht gekommen wären. "Das alles werde ich vermissen", sagt Tscholl, die Dresden vorerst nicht verlässt, sondern dort als freie Regisseurin und Kuratorin arbeiten will. Nur in Sachen Staatsschauspiel gibt es erstmal einen Cut. "Nach zehn Jahren brauche ich Freiheit, das meint Bewegung und einen neuen Blick." Und auch die Bürgerbühne brauche "jetzt mal neue Gesichter".  (dpa)