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Warum Psychotherapie bis heute tabuisiert ist

Exorzismus, Eisschock-Therapien und Euthanasie: Psychisch Erkrankte haben eine düstere Vergangenheit erlebt. Ein Experte glaubt, dass die Geschichte den Umgang mit Erkrankungen auch in der Gegenwart prägt. Und vielleicht noch in Zukunft.

Von Franziska Klemenz
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©  dpa

„Mein Blinddarm ist durchgebrochen, wollt ihr Details hören?“ „Mir wurde ja letzte Woche eine Zyste entfernt.“ „Achja, wie war’s eigentlich bei deiner Prostata-Untersuchung?“

Sätze, die an vielen Stamm- und Mittagstischen, in Büros, Kneipen oder Cafés einen Platz finden. Menschen erzählen sie Kollegen, Bekannten, dem Friseur, der Kioskbetreiberin. Ein anderer Satz fällt selten, höchstens unter engsten Vertrauten: „Ich bin psychisch krank.“ Nicht, dass psychische Erkrankungen ein Nischen-Phänomen wären. Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass rund jeder dritte Mensch im Laufe seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung leidet.

An einer Depression, um nur eine Krankheits-Form zu nennen, leidet im Laufe des Lebens jede vierte und jeder achte Deutsche, so die Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

Woher also die Scham? Vergleichen lässt sich wohl keine Krankheit mit einer anderen, fest steht aber: Egal wie schwer das Leiden ist, über rein körperliche Erkrankungen sprechen Menschen viel ungenierter als über psychische. Viele gestehen sich psychische Krankheiten selbst nicht ein. Nicht nur, weil die Bearbeitung anstrengend, die Konfrontation mit schmerzhaften Gefühlen und Erinnerungen aufreibend ist.

Ein Stigma haftet daran. „Viele psychische Probleme sind Scham-besetzt“, sagt Klaus Dilcher, Diplom-Psychologe und Co-Leiter der Klinik am Waldschlößchen. Die Privatklinik in Dresden ist auf die Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen und psychischen Trauma-Folgestörungen spezialisiert.

Psychoanalyse bei Freud auf der Couch: Das Privileg des „smarten Patienten“

Das Stigma haben die Gesellschaft und ihre Historie hervorgebracht. „Die Geschichte der psychischen Störungen ist nicht sehr rosig“, sagt Dilcher. In vielen Kulturen kam die Erkenntnis über die Existenz psychischer Erkrankungen lange Zeit überhaupt nicht vor. Gleichwohl befasste sich schon Hippokrates, der wohl berühmteste Arzt des Altertums, in seinen Aufzeichnungen unter anderem mit Depressionen und Wahnvorstellungen.

Im Mittelalter galten Kranke mit Psychosen, Hysterien oder Wahnvorstellungen hierzulande als vom Satan Besessene. Behandlungsmethoden: Exorzismus, Folter, Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Einzelne Mönche boten frühe Formen der Gesprächstherapie an, mit Segenssprüchen und Dämonenbeschwörungen.

Bis Menschen ihre Psyche wirklich analysierten, sollten weitere Jahrhunderte vergehen. Sigmund Freud gilt als Begründer der Psychoanalyse. Auf der Couch bei Freud, sagt Dilcher, das sei damals hauptsächlich etwas für „smarte Patienten“ gewesen, „die intelligent waren, die sehr gut situiert waren, die sich benehmen konnten.“ Die Behandlungskosten trugen sie selbst.

Die breite Masse der psychisch Erkrankten behandelte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiterhin mit menschenfeindlichen Methoden. „Vor gut 100 Jahren gab es in Psychiatrien noch das Eiswasser als Behandlungsmethode“, sagt Dilcher. „Da wurden Leute auf einen Stuhl gefesselt und immer wieder rückwärts reingeworfen.“ Menschen, die beispielsweise unter Schizophrenie litten, wurden hundertfach auf Stühlen gedreht oder erlitten unter Elektro-Schocks irreparable Schäden, körperlich wie seelisch.

„Die Gesellschaft ist grausam mit psychisch Kranken umgegangen“

Bis zur Psychiatrie-Reform 1975 in Westdeutschland und etwas später im Osten pferchte man psychisch Kranke in Massensäle. „Die Zustände waren grausam. Die Menschen wurden mit Psychopharmaka ruhig gestellt und das war es mit Behandlung.“

Den Diplompsychologen gibt es in Deutschland erst seit Anfang der 1940er-Jahre. „Das ist ein sehr junges Fach und es stand lange unter starken ideologischen Einflüssen.“ Die Gesellschaft grenzte psychisch Kranke aktiv aus, drängte sie immer wieder in die Obdachlosigkeit. „Die Gesellschaft ist grausam mit psychisch Kranken umgegangen.“ Im Dritten Reich kastrierten und ermordeten Nationalsozialisten hunderttausende psychisch Kranke, auch in der sächsischen Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein starben im Zuge der Euthanasie rund 15000 körperlich und geistig behinderte, psychisch kranke und andere Menschen.

Aus dieser Geschichte, sagt Dilcher, „kommt diese Angst. Das hängt alles gesellschaftlich noch mit drin.“ Die Vertreter der Psychiatrie-Reform von 1975 kritisierten, dass psychisch Kranke unter unmenschlichen Bedingungen verwahrt, isoliert und ausgegrenzt statt geheilt und rehabilitiert wurden. Zu ihren Zielen zählten die Reformer unter anderem die Gleichstellung von psychisch mit körperlich Kranken, den Ausbau von gemeindenahen, ambulanten Therapiemöglichkeiten und den Abbau von Langzeitmedikationen. In den 1980er-Jahren kam eine Reihe neuer Therapieverfahren empor, viele davon zur Angst- und Traumabehandlung. Ein neues Bewusstsein für Achtsamkeit und für die Verbindung von Körper und Geist breitete sich in kleinen Kreisen aus.

Schwäche zeigen fällt schwer

Und was ist heute? Teile der Gesellschaft, Teile der Medien und der Politik diskutieren immer wieder über Erkrankungen wie Burnout oder Depression. Wenn sich ein Torwart ermordet, oder ein Musiker. Wenn, wie in dieser Woche, eine neue Studie erscheint. Wenn eine Schauspielerin über die traumatischen Folgen von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung spricht.

Und doch: Oft verflüchtigt sich die Diskussion, ehe sie das persönliche Umfeld erreicht. Stammtisch-Thema ist Psychotherapie noch heute nicht. „Leistungseinbußen, Minderwertigkeit, ‚der ist charakterlich irgendwie angreifbar, schwach’ – das schwingt immer noch mit.“ Das müssten Menschen erst mal überwinden, ehe sie sich Hilfe suchen, sagt Dilcher. Mit dem Attribut schwach kämen die Menschen nicht gut zurecht. Manche, so Dilcher, würden sich dann entscheiden: „Nee, ich geh nicht zum Therapeuten. Psycho, will ich nichts mit zu tun haben.“ All die alten Vorurteile kämen dann zum Tragen.

Ob der Zugang zur Psychotherapie in Deutschland noch heute eine Frage der Schicht ist? Dilcher verneint. „Auch aus gehobenen Schichten gibt es die Funktion, sich nicht schwach zeigen zu wollen.“ Die Schwelle bezüglich der Kostenzusage für eine ambulante Psychotherapie sei sehr niedrig, der Patient muss nur ein paar Kreuze auf einem Antrag für die Krankenkasse machen. In Deutschland, sagt Dilcher, „ist der größte Hemmschuh, dass man so lange Wartezeiten hat, um eine Therapie zu beginnen.“ In der Regel zwischen drei und sechs Monaten, manchmal länger, auf dem Land noch mehr als in der Stadt. „Obwohl viel Offenheit erzeugt worden ist: Bevor jemand auf der Arbeit mal genau so von seinen psychischen Problemen erzählt wie von seinem Blinddarm-Durchbruch, da müssen aber noch ein paar hundert Jahre vergehen“, sagt Dilcher. Was kann die Halbwertszeit des Stigmas verkürzen? Neben gesellschaftlicher Aufklärung können mehr Therapeuten, mehr Therapieplätze, schnellere Zugänge helfen. Und Mutige, die ihre Erkrankung zum Thema machen. Am Stammtisch, am Mittagstisch, im Kiosk.