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Warum von Kirchentagen alle etwas haben

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.Heute: Die Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentages, Dr. Ellen Ueberschär, geht der Frage nach, obsich ein Kirchentag wie 2011 in Dresden rechnet – und zwar längst nicht nur ausrein finanzpolitischen Erwägungen heraus.

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Von Ellen Ueberschär

Kirchentag scheint eine teure Angelegenheit zu sein. Der 33.Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden hat einen Etat von rund 14 Millionen Euro. Und nur etwa die Hälfte der Kosten finanziert sich über die Teilnehmergebühren, über kirchliche Mittel, den Verkauf von Merchandising-Artikeln sowie die Unterstützung von Spendern und Sponsoren.

Mehr als sieben Millionen Euro kommen von der Öffentlichen Hand – von der Stadt Dresden, dem Freistaat Sachsen und dem Bund. Steuermittel in erheblichem Umfang werden aufgewendet für einen Kirchentag in einer Region, in der bekennende Christen in der Minderheit sind. In einer Zeit, in der die Sanierung von Schulen und Kindergärten auf die lange Bank geschoben wird, weil das Geld fehlt, stehen Fragen im Raum: Mit welcher Berechtigung wird aus dem allgemeinen Steueraufkommen eine Veranstaltung finanziert, die offen ist für alle Menschen, an der aber viele kein Interesse haben? Warum werden Leute, denen der Kirchentag gleichgültig ist, über die Steuern zur Finanzierung des Kirchentages zur Kasse gebeten?

Nicht alle Deutschen sind Fußballfans, nur ein Bruchteil der Fans geht regelmäßig in die Stadien der Bundesligavereine. Aber über die Steuern müssen wir alle für den Bau und den Unterhalt von Stadien und den Einsatz der Polizei unseren Beitrag leisten. Über die Fernsehgebühr zahlen wir dann noch einmal, damit samstags der Ball wieder rollt. Es gibt viele Beispiele, bei denen der Staat aus dem Steueraufkommen Dinge fördert, von denen zunächst nur eine Minderheit einen Nutzen hat.

Dass der Kirchentag nur einer von mehreren Nutznießern staatlicher Unterstützung ist, heißt aber nicht, dass er sich dahinter verstecken will. Alle, die staatliches Geld erhalten, stehen in der Pflicht, nicht nur darüber Rechenschaft abzulegen, dass dieses Geld sparsam und zweckmäßig ausgegeben wird, sondern auch die Berechtigung für die öffentliche Unterstützung immer wieder neu zu begründen.

Kirchentag lohnt sich. Das ist zumindest das (finanzielle) Ergebnis für die Städte und die Regionen, in denen Kirchentag stattfindet. Der Verein des Kirchentages gibt den weitaus größten Teil seines Budgets von 14 Millionen Euro am Veranstaltungsort wieder aus. 100000 Besucher des Kirchentages sorgen nicht nur für eine Auslastung der Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen in der Region, sondern beleben die örtliche Wirtschaft auch durch Einkäufe und Verzehr. Eine wissenschaftliche Analyse beziffert den regionalwirtschaftlichen Effekt eines Kirchentages auf 27 Millionen Euro.

Eine positive Bilanz für regionales Gewerbe und Wirtschaft sind ein schöner Nebeneffekt, aber nicht der Zweck eines Kirchentages. Ein Evangelischer Kirchentag ist eben keine kommerzielle Veranstaltung. Die Durchführung eines Kirchentages ist nur durch die Mitwirkung von Zehntausenden möglich, die sich unentgeltlich engagieren und vor und hinter den Kulissen die Arbeit leisten. Ehrenamtliches Engagement ist das Rückenmark in der Organisation eines jeden Kirchentages, nur mit den vielen Freiwilligen ist die Durchführung eines Kirchentages möglich. Ihre Leistungen sind unbezahlbar.

Auch in der veranstaltenden Region mobilisiert ein Kirchentag Ehrenamt und freiwillige Dienste. Am Abend der Begegnung, wenn sich die gastgebende Kirche präsentiert, kommen mehrere Hunderttausend Menschen in der Stadt zusammen. Bedient werden sie zumeist von Menschen, die nur im Dienst der guten Sache tätig sind. Aus dem gleichen Antrieb stellen diese Menschen Privatquartiere zur Verfügung, versorgen Gruppen in Turnhallen mit Frühstück und leisten technische Hilfe.

Durch die zahlreichen Besucher, die ein Kirchentag erstmals in die Region lockt, und nicht zuletzt dank der umfangreichen Medienberichterstattung bringt ein Kirchentag immer einen langfristigen Imagegewinn, der sich nicht genau in Euro und Cent beziffern lässt.

Die Frage, ob sich ein Kirchentag wirklich lohnt, können solche Berechnungen allenfalls vordergründig beantworten. Lohnt sich ein Konzert? Bringt eine politische Diskussionsrunde Gewinn? Welchen Vorteil hat ein Kirchentagsgottesdienst mit mehreren Zehntausend Besuchern? Welchen Wert hat das Gemeinschaftserlebnis, zusammen zu singen, zu arbeiten oder zu beten? Oder – um an die Anfänge der Kirchentagsbewegung zurückzugehen – was kostet es, die demokratische Kultur in unserem Staat kritisch und wachsam zu begleiten?

Ein Kirchentag ist eine einzigartige Veranstaltung. Nirgendwo sonst gibt es ein vergleichbar großes Angebot an Theater, Musik, Kultur, Spiritualität und Diskussion. An welchem anderen Ort stellen sich so viele Führungskräfte aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik den aktuellen und relevanten Debatten in der Gesellschaft?

Ein Kirchentag ist auch eine hochpolitische Veranstaltung aus der Mitte der Zivilgesellschaft. Die Emanzipation der Frauen, die Bewahrung der Schöpfung und die gerechte Gestaltung der Globalisierung: Kirchentage haben diese und andere Themen sehr früh aufgegriffen, verstärkt und beeinflusst. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so beginnt unser Grundgesetz. Auf jedem Kirchentag gibt es Dutzende von Veranstaltungen, bei denen der Erhalt und die Gewinnung menschlicher Würde im Zentrum stehen. Und es bleibt nicht beim Reden: Die Impulse setzen sich fort, über die Medien, die Diskussionen in der Heimat. Viele Initiativen, die Welt ein Stück gerechter zu gestalten, haben auf Kirchentagen ihren Anfang genommen.

In Ost- und Westdeutschland hat sich nach dem Bau der Mauer eine unterschiedliche Gestaltung der Kirchentage entwickelt. Großveranstaltungen wie westdeutsche Kirchentage mit internationaler Prominenz waren im Osten undenkbar. Kirchentage im Osten waren intimer, hatten weniger Themen und Veranstaltungsformate, boten dafür aber die Gelegenheit zum Tiefgang. Im geteilten Deutschland schlugen die Kirchentage Brücken.

Auch in der historischen Rückschau brauchen sich die ostdeutschen Kirchentage vor denen im Westen nicht zu verstecken. Unvergessen und in ihrer Wirkung unübertroffen bleibt die symbolische Aktion, die auf dem Kirchentag 1983 in Wittenberg stattfand. Unter den Augen und vor den Kameras zahlreicher westlicher Journalisten schmiedete der örtliche Schmied Stefan Nau vor 4000 Teilnehmern ein Schwert zu einer Pflugschar um. Hat sich der Kirchentag damals gelohnt? Einen Kirchentag zu planen, inhaltlich und organisatorisch vorzubereiten, durchzuführen, nachzubereiten und gegenüber den Förderern am Ende abzurechnen, ist harte Arbeit.

Diejenigen, die diese Arbeit leisten – ob haupt- oder ob ehrenamtlich –, sind von dem Sinn ihrer Tätigkeit überzeugt. Und auch die Mehrzahl der Besucher von Kirchentagen hat sich entschieden. Für sie lohnt sich der Kirchentag, denn sie kommen wieder.

Weil es keine vergleichbare Veranstaltung gibt, so geht nur der Weg, einen Kirchentag selbst einmal zu erleben, um einen Eindruck davon zu bekommen. Diejenigen, die Kirchentage generell kritisch sehen oder die, welche die öffentliche Finanzierung infrage stellen, möchte ich herzlich für den Juni kommenden Jahres einladen. Freuen würde ich mich, wenn die Diskussion über den Sinn (oder den Unsinn) von Kirchentagen fortgeführt wird.

Unser Gästebuch, das Sie unter www.kirchentag.de im Bereich Service finden, steht für entsprechende Beiträge zur Verfügung. Und auch auf dem Kirchentag selbst sollten sich Kritikerinnen und Kritiker zu Wort melden, denn für den zivilisierten Meinungsstreit ist ein Kirchentag genau der richtige Ort.