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Wehmut in Wittenberg

Oberbürgermeister Torsten Zugehör über die Seelenlage der kleinsten Großstadt der Welt nach dem anstrengenden Luther-Jubiläum.

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© kairospress

Die Stadtverwaltung ist vor Jahren aus Platzgründen aus dem schönen Renaissance-Rathaus am Markt ausgezogen. Aber zum Fotografieren stellt sich der Oberbürgermeister gern vor das Prunkstück. Hier, zwischen Schlosskirche und Lutherhaus, flanieren auch noch nach dem Reformationsjubiläum die Touristen, darunter viele aus Japan und den USA. Torsten Zugehör, 45, verheiratet, drei Kinder, wurde in der Lutherstadt geboren, hat hier BMSR-Technik (Betriebs-, Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik) gelernt, dann in Leipzig Jura studiert. Seit knapp drei Jahren ist er Oberbürgermeister. 2017 hatte er seine größte Herausforderung zu bestehen.

Herr Oberbürgermeister, sind Sie froh, dass der Trubel bald vorbei ist?

Nein. Sie haben gemerkt: Es war ein sehr zügiges nein. Trotz ganzjähriger Sieben-Tage-Woche und Ausfall des Urlaubs – es war ein tolles Jahr. Wir wurden für unsere Anstrengungen reich beschenkt. Ich spüre in der Stadt sogar Wehmut, weil einige Veranstaltungen bereits zu Ende sind und viele junge Menschen Wittenberg verlassen haben. Jetzt freuen wir uns auf eine besinnliche Adventszeit. Nach so einem Ereignis muss man auch mal Luft holen.

Der Bundespräsident war da, die Kanzlerin, Ai Weiwei und die dänische Königin. Gab es so etwas schon mal in der – pardon – Kleinstadt Wittenberg?

(lacht) Für diese Antwort bin ich zu jung. Im Ernst: So eine Ballung hat es in der Geschichte der Stadt sicher noch nie gegeben. Prinzipiell verstehen wir uns natürlich als Kleinstadt, allerdings haben wir uns 2017 als kleinste Großstadt der Welt gefühlt. Wir sind schon ziemlich selbstbewusst.

Wittenberg hat 46 000 Einwohner. Wie viele Gäste waren denn dieses Jahr hier?

Bis September wurden an der Schlosskirche, wo Martin Luther die berühmten Thesen angeschlagen hat, 300 000 Besucher gezählt. Das Asisi-Panorama mit der Darstellung der Stadt zur Reformationszeit haben 400 000 gesehen. Genauer weiß ich das nicht, darauf kommt es auch nicht an. Wichtig ist, dass Hunderttausende hier ein sehr gutes Programm erlebt haben.

Anfang des Jahres sollen die Wittenberger das Fest noch sehr skeptisch betrachtet haben. Wie sind sie den nun mit diesem Ansturm klargekommen?

Ja, es gab am Anfang Sorgen und Ängste. Auch sehr berechtigte. Immerhin ist ja die Sicherheitslage schwieriger geworden. Deshalb waren viele nicht gerade euphorisch, eher zurückhaltend. Aber das hat sich gewandelt. Vor allem, weil die Organisatoren des Luther-Jubiläums großen Wert darauf gelegt haben, dass die Bürger in die Programmgestaltung einbezogen wurden und die DNA der Stadt erhalten blieb. Dies ist das wichtigste Erfolgsgeheimnis. Und dann haben die Wittenberger auch ihre Stadt neu entdeckt, die Wallanlagen zum Beispiel.

Als Luther 1508 nach Wittenberg kam, lebten hier 2 000 Leute in Lehmbauten. Lässt sich in wenigen Sätzen ausdrücken, was die Stadt ihrem bedeutendsten Sohn verdankt?

Am wichtigsten für die Stadtentwicklung war der Aufbau der Universität, der Leucorea, an der Luther gelehrt hat. Luther, der Mutige, aber auch Melanchthon, der ihm beratend zur Seite stand und ganz froh war, dass da einer mit breitem Kreuz vor ihm stand. Dazu kam der Maler, Unternehmer und Bürgermeister Cranach. Dass diese drei Personen mit ihren unterschiedlichen Talenten zueinandergefunden haben, ist ein großer Glücksumstand für die Stadt. Auch wenn heute bei Compliance-Beauftragen alle Warnlampen angehen würden.

Wittenberg glänzt, wie vielleicht noch nie in der Geschichte. Wir haben Sie das hin bekommen?

Es war eine kluge Entscheidung, sich dem Jubiläum über eine Reformationsdekade zu nähern. Diese Initiative ging von der Stadt aus. Und wenn man so etwas sehr früh anfängt, dann ist vieles möglich. Die Schlosskirche ist saniert, das Schloss, die Stadtkirche, Lutherhaus, Augusteum, ein neuer Bahnhof. Allein hätten wir das nicht hinbekommen. Land, Bund, die EU haben uns sehr gut unterstützt, die Kirche hat in ihre Einrichtungen investiert. Insgesamt sind etwa 70 Millionen Euro geflossen.

Welche Veranstaltungen waren für Sie wichtig?

Der Abschlussgottesdienst des Kirchentages im Sommer an der Elbe war ein großes Erlebnis. Auch die Weltausstellung gehört dazu mit ihren wechselnden Ausstellungen und den vielen jungen Leuten aus vielen Ländern. Das hat eine gewisse Leichtigkeit in die Stadt gebracht. Aber es sind auch viele kleine Begebenheiten, an die ich mich gern erinnere. Zum Beispiel eine Trauung zweier Pfarrer auf dem Seelsorge-Riesenrad, die ich vornehmen durfte.

Was hat gefehlt? Es gibt ja durchaus auch Kritik am Jubiläum, von Friedrich Schorlemmer zum Beispiel.

Ich kann verstehen, dass Schorlemmer als Pfarrer einen Blick ins Innere der Kirche wagt und deshalb nicht rundum zufrieden ist. Aber das steht mir nicht zu. Ich sage: Ich vermisse nichts. So wie es war, war es gut. Für uns war jeder Tag ein großes Geschenk. Danke, danke, danke. Auch an alle Ehrenamtlichen.

Konnten Sie als gebürtiger Wittenberger noch etwas Neues über den großen Reformator lernen?

Aber ja, auch wenn man Luther in dieser Stadt noch nie aus dem Wege gehen konnte. Mir ist viel klarer geworden, wie er als Theologe seine eigene Fehlbarkeit in den Mittelpunkt gerückt hat. Sehr beeindruckend. Dazu sein Mut und seine klare Haltung, mit der er in Gespräche gegangen ist. Das kann uns heute helfen, da oft die Fronten verhärtet sind und sich manche einer Sprache wie im Kalten Krieg bedienen. Deshalb ist es auch nicht schlecht, denjenigen, die keinem Glauben anhängen, zu sagen: Wenn jemand einen Fehler macht, dann setz dich doch mal auf seinen Stuhl und denke darüber nach, wie es dir an seiner Stelle ergangen wäre. Vielleicht ist dieser Fehler ja auch eine Chance.

Und was haben Sie über den Privatmenschen Luther gelernt?

Er war ja eine ambivalente Persönlichkeit, im jüngsten Lutherfilm wurde das herausgearbeitet. Er ist zum Beispiel hart mit Frauen umgegangen, hat aber seine Ehefrau durchaus als Partnerin anerkannt.

Ohne Licht kein Schatten.

Ja, kann man so sagen. Und wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. So sollte man seine Äußerungen über die Juden auch nicht mit Hinweisen auf seine Zeit schönreden. Aber es ist auch wichtig, diese Teile seiner Persönlichkeit in diesem Jahr nicht auszublenden. Deshalb finde ich es richtig, dass eine Diskussion über die an der Stadtkirche angebrachte Judensau stattfindet. Ich bin der Überzeugung: Sie soll an der Kirche bleiben. Wir sollten mit Bildung, nicht mit Bilderstürmerei hantieren.

Was bleibt vom Lutherjahr?

Wir unterscheiden da die Hardware und die Software. Zur Hardware gehören die vielen sanierten Gebäude hier in Wittenberg. Die bleiben natürlich. Ein Riesengewinn für die Stadt. Auch das Asisi-Panorama bleibt bis 2020. Und mit den Künstlern der Stadt bin ich im Gespräch über eine alle zwei Jahre stattfindende internationale Luther-Biennale. Die wäre einmalig in den neuen Bundesländern. Zur Software zähle ich, dass die Wittenberger gelernt haben, dass es nicht schlimm ist, wenn beim Bäcker neben den zwei bekannten Gesichtern noch fünf, sechs Fremde anstehen. Dass sie mit etwas Mühe durchaus einen Parkplatz finden können. Schließlich haben sie erfahren, dass man für die erwünschte Weltoffenheit erst mal Vielfalt zulassen muss. Auf diese Weise haben wir Toleranz neu gelernt.

Bitte vervollständigen Sie den Satz: Wer das Lutherjahr verpasst hat und erst 2018 nach Wittenberg in Sachsen-Anhalt kommt, der ...

.... wird garantiert nicht enttäuscht werden.

Das Gespräch führte Olaf Kittel