Weißwasser. Es ist windig. Kalt. Doch Franziska Stölzel lässt sich das nicht anmerken, als sie von Robert Seidel von der Telux-Medienstube auf dem jüdischen Friedhofs-Areal in Weißwasser gefilmt wird, während sie über Dr. Hermann Altmann, Weißwassers einstigen „Armenarzt“ erzählt, der sich auf Grund der Drangsalierung durch die Nationalsozialisten 1940 das Leben nahm.
Die Aufnahmen entstanden Ende 2020 für einen vierten und vorerst letzten Videoclip. Alle sind auf Facebook, Youtube und anderen Mediakanälen, so auch der Website der Stadtverwaltung, zu sehen und widmen sich der jüdischen Stadtgeschichte. Dass Franziska Stölzel bei den Aufnahmen mitmacht, hat seinen Grund. Sie gehört zu einer im vorigen Sommer gegründeten Initiativgruppe, die die Verlegung sogenannter Stolpersteine in Weißwasser auf den Weg bringen möchte. „Mit den Kurzfilmen wollen wir über jüdische Bürger informieren, die einst in Weißwasser lebten und arbeiteten und an sie erinnern. Zum anderen wollen wir damit auf unser Vorhaben aufmerksam machen, kleine Gedenktafeln aus Messing auf Fußwegen vor ihren einstigen Wohnhäusern oder Geschäften als Andenken einzulassen“, erzählt Franziska Stölzel.
Die Idee sogenannter Stolpersteine, die Menschen beim Laufen automatisch spüren und die dadurch spür- und sichtbare Aufmerksamkeit erlangen, ist nicht neu. Bereits Anfang der 1990er Jahre entwickelte der Künstler Gunter Demnig diese Form des Erinnerns. Bis heute ist er in Deutschland der einzige Hersteller dieser Steine, die als Gedenktafeln auch Name und Kurzinformationen zur jeweiligen Person sichtbar machen. Stolpersteine finden sich inzwischen in über 1.000 deutschen Kommunen und 21 Ländern Europas. Nun soll Weißwasser dazukommen.

Für die Mitstreiter des Projekts ist es eine logische Konsequenz der Stadtgeschichte. Denn dank der Arbeit des einstigen Ortschronisten und langjährigen Mitglieds im Förderverein Glasmuseum Weißwasser, Werner Schubert – er verstarb im Dezember 2020 im Alter von 96 Jahren – ist die Geschichte der in Weißwasser geborenen und lebenden jüdischen Bürger von 1881 bis 1945 umfassend erforscht worden. Auf Basis seiner Recherchen sowie der Mitwirkung von städtischer Denkmalkommission und Schülern des Landau-Gymnasiums wurden bereits Bücher, Schriften, Projektarbeiten und Filme zum Thema möglich – und 2010 die Wiedereinweihung des 1982 eingeebneten jüdischen Friedhofs in der Mühlenstraße. Vor allem aber kamen Leben und Wirken des einstigen Begründers der Weißwasseraner Glasindustrie, Joseph Schweig, das Schicksal von Dr. Altmann sowie vieler bislang Unbekannter ans Licht. Während Schweig inzwischen Weißwassers Ehrenbürger postum, sein Grab ein Ehrengrab und seit 1992 eine Straße nach ihm benannt ist – Letzteres gilt auch für Dr. Altmann – waren andere Schicksale ebenso wie mitmenschliches Engagement von Weißwasseranern lange nicht im öffentlichen Fokus, wie das Beispiel von Margarete Pese und ihrer behinderten Tochter Gerda zeigt. Die Witwe des einstigen Textilhändlers Max Pese, der 1932 verstarb, und ihre Tochter kamen 1942 ins Vernichtungslager Belzec, nachdem sie zuvor von 1933 bis 1938 bei einem arbeitslosen Heizer und seiner Familie Zuflucht fanden, bevor ein Nazi-Schlägertrupp sie dort fand und abholte.
Diese und andere Ereignisse greifen auch die mit vielen Bildern aus Historie und Gegenwart sowie Musik unterlegten Filmclips auf, um öffentlich auf jüdische Stadtspuren und das Stolpersteine-Vorhaben aufmerksam zu machen. Flyer sollen folgen. „Mit den Steinen vor den Häusern, wo jüdische Menschen bis in die Zeit des Nationalsozialismus wohnten, wird die Erinnerung an sie lebendig. Das scheint heute notwendiger denn je“, meint Franziska Stölzel. Auch Ernst Opitz vom Impuls-Verein, unter dessen Dach die Initiativgruppe arbeitet, sieht es so. „Mord und Ausgrenzung sind in Weißwasser passiert. Und noch heute müssen wir Diskriminierung verhindern, um Zusammenleben trotz aller Unterschiede zu ermöglichen. Denn es scheint wieder legitim zu sein, zu sagen: «Die gehören nicht zu uns!».“
Die neun Mitglieder der Initiativgruppe sowie ihre Unterstützer hoffen, noch 2021 erste Erinnerungs- und Gedenksteine in Weißwasser verlegen zu können. Allerdings kostet ein Stein rund 150 Euro. „Wir sammeln daher Spenden, hoffen ebenfalls auf Stolperstein-Patenschaften“, so Opitz. Patenschaften könnten Schulen, Firmen, Vereine, Institutionen oder Bürger übernehmen. Neben der Steine-Finanzierung böten sie die Möglichkeit ihrer kontinuierlichen Pflege sowie der Beteiligung an der deutschlandweiten Putzaktion, die jährlich am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht 1938, stattfindet.
Spenden für das Projekt: Impuls e. V.,
DE 8505 0100 3100 0143 66, Sparkasse Oberlausitz-Niederschlesien,
Zweck: Spende Stolpersteine