„Nicht alles ist in drei Tagen zu klären“

Bomben detonieren, die Druckwelle lässt Fensterscheiben bersten. „Wir haben erst gar nicht verstanden, was da passiert“, erzählte Alla Mankowa. Sie hätten die kaputten Fenster notdürftig mit Holz abgedichtet. In den Tagen darauf seien sie nur noch ins Haus, um sich zu waschen. Als in Charkiw selbst Passanten auf dem Weg zum Einkauf beschossen wurden, schnappte sich die 45-Jährige ihre beiden Töchter Amina (11) und Tamila (9) und floh aus der Ukraine. Seit 11. März leben sie im Kindererholungszentrum (Kiez) am Braunsteich in Weißwasser. Die Einrichtung wurde von der Landesdirektion zur Erstaufnahme für ukrainische Flüchtlinge bestimmt. 377 sind aktuell hier untergebracht. Mit 45 Prozent sind beinahe die Hälfte davon Kinder. Auch einige Männer sind darunter, die in irgendeiner Form gehandicapt sind.

Registrierung dauert noch
Am Mittwoch besuchte Sachsens Innenminister Dr. Roland Wöller (CDU) das Kiez, um sich ein Bild von der Situation in dem Lager zu machen. Im Speisesaal war er augenblicklich umringt von etlichen Frauen. Sie alle erhofften sich vom Staatsminister Auskunft darüber, wie es für sie weitergeht. Die Sorge könne er verstehen, sagte Wöller. „Das Wichtigste ist erst einmal, dass Sie hier sicher und gut versorgt sind“, wandte er sich an die Frauen. Sie könnten bleiben, arbeiten gehen, die Kinder einen Kindergarten oder die Schule besuchen. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist allerdings die Registrierung bei der Ausländerbehörde. „Und das dauert eine gewisse Zeit“, räumte der Staatsminister ein. Die Behörde kommt wegen des Ansturms aus der Ukraine nicht hinterher. Es bestehen Wartezeiten bis zu drei Monaten.
„Es ist die größte Flüchtlingskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. 3,6 Millionen Menschen aus der Ukraine haben sich auf den Weg gemacht“, erklärte Roland Wöller. 300.000 seien bereits in Deutschland, in Sachsen sind es mehr als 20.000, und es werden täglich mehr. Mit 4.000 Plätzen habe der Freistaat die Kapazitäten der Erstaufnahme mehr als verdoppelt. Eine der Hauptrouten für die Einreise sei über Görlitz gegangen und habe dort „zu unhaltbaren Zuständen“ geführt. „Wir konnten klären, dass die Züge jetzt nach Berlin fahren. Das ist eine große Erleichterung“, sagte er. Dennoch kommt die Ausländerbehörde mit der Registrierung derer, die schon da sind, nicht hinterher. Der Freistaat werde Personal zur Verstärkung schicken, kündigte der Innenminister an.
Die Registrierung erfolgt mit einem technischen Gerät und dauert pro Person 30 bis 50 Minuten. Den Flüchtlingen versprach Wöller, dass in den nächsten Tagen jemand zur Registrierung ins Kiez kommt. „Haben Sie Geduld; es geht nicht alles auf einmal. Das Wichtigste ist, dass Sie hierbleiben können, alles andere klären wir Schritt für Schritt“, bekräftigte er.

Zuwendung vor allem für Kinder
Wöller dankte dem Team um Rico Jung, Vorstandsvorsitzender des Kiez-Vereins, für die aufopferungsvolle Arbeit. Auch sei er sehr froh über die vielen freiwilligen Helfer. Sie alle versuchen, die Zeit im Lager für die Flüchtlinge so gut wie möglich zu überbrücken. Mit Kinderhockey zum Beispiel, was an drei Nachmittagen dieser Woche gespielt wurde. Am Mittwoch schminkte Diana die Kinder zu kleinen „Monstern“. Sie wohnt seit zwei Jahren mit Mann und Kind in Weißwasser. In einem Intensivkurs hat sie an der Volkshochschule Deutsch gelernt. Die 25-Jährige, die bislang einen Minijob hatte, möchte gern Erzieherin werden. Im Kiez wird sie ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvieren. Sie habe großen Spaß bei der Arbeit mit den Kindern, wie sie sagte. Und diese wiederum sind dankbar für Zuwendung und Beschäftigung.
Der Keller des Hauptgebäudes gleicht einem Warenlager. Dort können sich die Flüchtlinge mit Bekleidung und Schuhen eindecken. Es sind Spenden von Bürgern nach einem Aufruf bei Facebook. In einem Raum im Erdgeschoss gibt Caroline Pfuhl von den Maltesern Hygieneartikel aus: Zahnpasta, Duschbad, Windeln, Babynahrung und vieles andere. „Die Familien haben ja kein Taschengeld und ihre Geldkarten funktionieren nicht“, begründete Rico Jung. Die Erstausstattung habe sein Team mit Spendengeldern gekauft. Auch die Artikel in der Ausgabestelle wurden gespendet.
Online-Unterricht in Aussicht
Alla Mankowa, die sich nie groß für Politik interessiert hat, telefoniert fast jeden Tag mit der Heimat. „Wir hatten ein Haus, jetzt haben wir gar nichts mehr“, sagte sie bitter. „Die Deutschen sind sehr hilfreich“, fügte sie in dem persönlichen Gespräch mit dem Staatsminister hinzu. Es sei aber beängstigend, nicht zu wissen, wie es weitergeht, wann zum Beispiel ihre beiden Mädels in die Schule gehen könnten. „Die Ukraine ist nicht weit weg. Deswegen berührt uns das sehr. Aber bei allem Verständnis für die Not, es geht nicht in drei Tagen zu klären“, bekräftigte Wöller noch einmal. Täglich tage der Krisenstab der Landesregierung – auch zu den Fragen der Kinderbetreuung in Kitas und Schulen. Man komme schrittweise voran. Nach seiner Aussage stehe der Freistaat im Kontakt mit dem ukrainischen Bildungsministerium. Sachsen werde einen Zugang zum dortigen Online-Unterricht bekommen. Der Ukraine sei sehr daran gelegen, dass dieser in Ukrainisch erfolge. Auch hätten sich inzwischen ukrainische Lehrer in Sachsen gemeldet, die die Flüchtlingskinder in ihrer Muttersprache unterrichten wollen.
Für Alla Mankowa und ihre beiden Töchter zumindest ein kleiner Lichtblick. Sobald die Familie registriert ist, dürfen die Viert- und Fünftklässlerin zur Schule.
Oberbürgermeister Torsten Pötzsch (Klartext) hatte sich für den Termin entschuldigt: Als Kreisrat hatte er am Mittwoch in Görlitz bei wichtigen Entscheidungen mit abzustimmen.