Weißwasser – glasklar

Von Gregor Schneider
Weißwasser macht sich fit für die Zukunft. So oder so ähnlich könnte es ein Marktschreier, der ja von Grunde auf Optimist sein muss, verkünden. Die Stadt werkelt an ihrem Zukunftsfahrplan, integriertes Stadtentwicklungskonzept genannt. Das machen andere Städte auch. Die alte Residenzstadt Zeitz zum Beispiel, irgendwo im mitteldeutschen Revier gelegen und ähnlich gebeutelt wie Weißwasser, wird als sachsen-anhaltinische Modellstadt für ein „Neues europäisches Bauhaus“ gehandelt. Im Gegensatz zu Weißwasser hat Zeitz bisher nur wenig bis gar keinen Bezug zum Bauhaus, das ja hauptsächlich mit Weimar und Dessau verbunden wird. In Weißwasser haben zwischen 1928 und 1948 immerhin drei Bauhäusler – Emil Lange, Wilhelm Wagenfeld und Ernst Neufert – gewirkt und Spuren hinterlassen.
Aber Zeitz hat auch etwas, wovon Weißwasser nur noch sehr wenig hat: alte Industriebauten. Zeugnisse einer großen Epoche als Industriestadt. Wer kennt sie nicht, die Kinderwagen von „Zekiwa“? Oder Schokolade von „Zetti“? Zeitz hat noch ganze Areale voller Industriebauten. Diese werden allmählich zu Goldstaub. Um ihre Wiederbelebung geht es. Einige, wie etwa die „Nudelfabrik“, sind schon im Kommen. Um andere drehen sich nun die Gedanken. Wer heute in Zeitz ankommt, spürt sofort, was die Stadt einst prosperieren ließ, auch wenn das Bild der Industriebrachen inmitten der Stadt heute noch trist erscheint. Es kommen aber immer mehr junge Menschen und entdecken die freien Räume in Zeitz – Leipzig ist nur 30 Minuten entfernt.
In Weißwasser wurden fast alle baulichen Zeugen der industriellen Blütezeit, die sich hauptsächlich entlang der Bahnlinien wie an Perlenschnüren aufreihten, nach und nach plattgemacht und mit Magerrasen „aufgehübscht“. Wer heute nach Weißwasser kommt, muss schon eine gute Portion Fantasie mitbringen, um sich die einstige Stadtgeschichte als europäische Glasmetropole vorstellen zu können. Die Marke „Glasstadt“ ist aber für Weißwasser ein, wenn nicht DER Anker in Vergangenheit und Zukunft. Daran sollte sich die „Erzählung“ wieder viel mehr orientieren! „Wer Weißwasser kennt ...“ – da sollte es „Klick“ machen. Und wenn man hier unterwegs ist, sollte man es spüren: „Weißwasser – glasklar!“.
Zeitz ist eine uralte Domstadt mit langer Geschichte und viel historischer Bausubstanz. Weißwassers Erzählung ist eher die vom Heidedorf im Muskauer Faltenbogen, von Rohstoffen, von Zuwanderern und dem „explodierten Dorf“ hin zu einer weltbedeutenden Industriestadt. Zeitz werkelt auch gerade an seiner Zukunft. In einer „Fiktion 2045“ geht man dort mal frech von einer Verdopplung der Einwohnerzahl bis 2045 aus. Solchen Utopien müssen wir uns nicht hingeben. Schön wäre, wenn wir erst mal klären könnten, was mit dem Slogan „Stadt mit Charakter“ gemeint ist. Ein Alleinstellungsmerkmal sicher nicht. Aber das braucht es! Da scheint „Weißwasser – glasklar!“ doch wieder das viel treffendere Motto für unsere Zukunft im Strukturwandel und darüber hinaus zu sein. Denn wir befinden uns allein hier in der Region in einem Wettbewerb der Städte um junge Leute und Fachkräfte. Die kommen nicht dahin, wo der meiste Magerrasen wächst.
Unser Autor Gregor Schneider ist gebürtiger Weißwasseraner und Rückkehrer. Der Stadtplaner begleitet aktiv die Transformation der Heimatregion. Hier äußert er seine privaten Gedanken zum Stadtgeschehen.