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Wenn der Schutz der Familie nicht mehr zählt

Ein junger Nigerianer hat mit seiner deutschen Frau ein gemeinsames Kind – und ein abgelaufenes Visum.

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© dpa

Von Frank Seibel

Wäre es nach der Görlitzer Ausländerbehörde gegangen, hätte Abraham George* jetzt nicht mitfahren können in die Klinik. Dann könnte der junge Vater nicht dabei sein, wenn sein sechs Monate alter Sohn Albert auf die große Operation vorbereitet wird, bei der es um Leben und Tod geht. Wäre es nach der Görlitzer Ausländerbehörde gegangen, wäre Abraham George jetzt in Nigeria; oder in Nordzypern. Hinausgeworfen aus dem Land, aus dem seine Ehefrau stammt und in dem ihm zudem das Sorgerecht für seinen kleinen Sohn erteilt wurde. Wochenlang fürchtete die Familie, dass gleich die Polizei kommt und den Vater abholt. Dabei ist er kein Flüchtling, kein Asylsuchender. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie in Nigeria, wollte das Studium der Wirtschaftswissenschaft in Zypern nur kurz unterbrechen ...

Dort hat vor zwei Jahren alles begonnen. Dort hat der Student aus Afrika die Oberlausitzerin Jeanette Bruns* kennengelernt. Sie hat in Hotels gejobbt, er hat in seiner Freizeit Musik gemacht. Irgendwo in der Mitte sind sie sich begegnet und haben sich ineinander verliebt. Als Jeanette nach einem knappen Jahr schwanger wurde, planten sie eine gemeinsame Zukunft – in Nigeria. Dorthin reiste das Paar im Frühjahr 2017, dort nahm seine Familie die Frau herzlich auf. Das junge Paar heiratete und wollte nur noch einmal für eine Weile nach Deutschland, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Mit deutschen Ärzten und Kliniken fühlte sich Jeannette Bruns sicherer.

Abraham George besorgte sich ein Touristenvisum für drei Monate, das sollte reichen, um Frau und Baby nach der Geburt heim zu seiner Familie zu holen. Doch es kam anders. Der kleine Albert kam mit einem schweren Herzfehler zur Welt, musste kurz nach der Geburt im Leipziger Uni-Klinikum erstmals operiert werden. „Ich konnte meine Frau und mein Baby nicht einfach allein lassen“, sagt George – und unterschätzte, dass er damit gegen das Ausländergesetz verstieß. Das Visum war abgelaufen. Er saß in einer moralischen Falle: Frau und Kind längere Zeit zurückzulassen, das hätte er als verantwortungslos empfunden; seine christliche Familie in Nigeria hatte ihm etwas anderes beigebracht. Aber hier, in Görlitz, war er auf einmal ein Krimineller.

Andererseits: Wie konnte es sein, dass ein verheirateter Familienvater, der zusätzlich noch formal das Sorgerecht für seinen in Deutschland geborenen Sohn erhalten hat, ausgewiesen werden soll – wenn auch nur vorübergehend, um sich in seinem Heimatland um ein längerfristiges Visum zu kümmern.

Ein Unding, sagt der Görlitzer Rechtsanwald Marcus Klinkert und verweist auf einen zentrales Grundrecht: Die Familie steht unter einem besonderen Schutz, heißt es in Artikel 6 der bundesdeutschen Verfassung. „Den hat die Ausländerbehörde einfach mal ignoriert“, sagt der Jurist. Klinkert legte Widerspruch ein. Wochen vergingen. Dann ein Rückschlag – das Verwaltungsgericht Dresden befand, dass das Ordnungsamt, dem das Sachgebiet Ausländerrecht untersteht, alles verantwortungsvoll abgewägt: Ausländerrecht versus Familienschutz ... Es sei der Familie und dem Kind zuzumuten, dass der Vater für eine gewisse Zeit nicht bei ihnen sein kann.

Diese Entscheidung machte den Görlitzer Anwalt fassungslos. „Das Gericht hat überhaupt nichts geprüft“, sagt Klinkert. Die Verwaltung habe gar nichts gegeneinander abgewägt, sondern nur in einem Satz behauptet, alles Für und Wider in die Waagschale gelegt zu haben. Aber fachliche Einschätzungen, was in dieser Phase die Abwesenheit des Vaters für ein schwer krankes neugeborenes Kind bedeuten könnte; wie zudem die Psyche der Eltern belastet würde, all das sei eben nicht betrachtet und in der Entscheidung des Landratsamtes dargelegt worden, so Klinkert.

Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte reagiert ebenfalls verstört und beunruhigt. Der Schutz der Familie und das Wohl des Kindes seien durch die Verfassung und die UN-Kinderrechtskonvention als eines der stärksten Grundrechte besonders geschützt, sagte er. Eine Abschiebungsausweisung des Mannes „würde zentral ins Familienleben eingreifen“. Die Behörden hätten bei einem abgelaufenen Visum einen Ermessensspielraum. Den habe das Görlitzer Landratsamt offenbar nicht angewandt. Nächster Schritt: Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht (OVG). Wieder nervenzehrende Wochen, die tägliche Furcht, dass der Landkreis den jungen Vater abschiebt. Nach Wochen dann eine gute Nachricht. Das OVG in Bautzen hebt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf und stellt fest, es habe „dem Antragsteller einen einstweiligen Rechtsschutz zu Unrecht versagt“. Nach Auffassung des OVG geht es dabei um den Schutz des Babies. Mit nur wenigen Monaten könne das Kind nicht verstehen, dass der Vater nur vorübergehend woanders ist. „Eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit kann (...) bei einem Kleinkind, dessen Entwicklung sehr schnell voranschreitet, schon unzumutbar lang sein.“ Nun muss grundsätzlich geklärt werden, ob Abraham George, weil er mit einer Deutschen verheiratet ist und ein gemeinsames Kind hat, grundsätzlich ein Recht hat, in Deutschland zu leben. Mit Hinweis darauf, dass diese Frage noch rechtlich geklärt werden muss, lehnt das Landratsamt Görlitz eine Stellungnahme zum gesamten Vorgang ab.

Nun wartet die Familie auf den lebenswichtigen OP-Termin für den kleinen Albert in Leipzig. Abraham George hofft, dass ihm ausreichend Zeit bleibt, seinen Sohn und seine Frau in dieser Phase zu begleiten. Vielleicht liegt die Zukunft der Familie anschließend ohnehin in Nigeria.

* (Namen der Familie geändert)