Von Jens Hoyer
Döbeln. Dass der Döbelner Stadtsingechor in Berlin einen Fanklub hat, das wusste Stefan Tichy bis Sonnabend noch nicht. Nach dem Weihnachtskonzert kam ein junger Mann und bracht einen Blumenstrauß. „Die Berliner kommen jedes Jahr zu unserem Weihnachtskonzert. Das war eine schöne Geste“, sagte Tichy. Es hat viele solcher Gesten gegeben an diesem Abend. Es war Tichys letztes Konzert als Chorleiter in Döbeln. Nach 36 Jahren legt er sein Amt nieder. Und er tut es ohne Wehmut. „Es ist die Last von mir genommen, mich immer neu zu motivieren“, sagte er. Und noch ein Punkt ist entscheidend: Die Nachfolge ist gesichert. Tichy sieht darin sogar die Chance für einen Neustart des Chors.
Anfangs hatte er es für fast aussichtslos gehalten, in Döbeln einen neuen Chorleiter zu finden. Und dann ging es ganz einfach. „Ich wusste, dass der Kantor Markus Häntzschel geheiratet hatte, und dass seine Frau Musik auf Lehramt studiert. Da habe ich ganz vorsichtig angefragt“, sagte Tichy. Und er bekam eine Zusage. Die 24-jährige Lisa Häntzschel wird den Chor ab 1. März übernehmen. „Ich freue mich, dass es weitergeht und dass es die Chance zur Verjüngung gibt“, sagte Tichy. Bis Lisa Häntzschel anfängt, leitet Stefan Tichy die Proben noch kommissarisch. „Danach werde ich nach hinten in die vierte Reihe rücken“, sagte der 73-Jährige. Dort singen die Bässe.
Während viele Chöre heute um den Nachwuchs ringen, gab es früher eine lebendige Chorkultur mit Resten bis in die jüngere Vergangenheit. „Im November 1967 stand plötzlich ein Mann in der Tür und fragte, ob ich die Leitung des Männerchors in Großbauchlitz übernehmen würde“, erzählte Stefan Tichy. Der nannte sich Männerchor Döbeln West, hieß früher Männergesangsverein Sangeslust und probte in der Weißen Taube. Ein paar prominente Handwerksmeister schmetterten dort mit. „Eines Tages fragte mich der Ofensetzer Richter, ob ich denn überhaupt ein Klavier zu Hause hätte. Am nächsten Tag steckte ein Briefumschlag mit 2000 Mark in meinem Briefkasten“, erzählte Tichy. Als sich der Chor in den 1970ern auflöste, bekam Tichy die alte Vereinsfahne zur Aufbewahrung. Sie hängt heute im Stadtmuseum.
Der Lehrer leitete auch den Männer- und den Frauenchor in Roßwein, die damals zum gemischten Chor verschmolzen, der heute noch unter „Frisch auf“ firmiert. Seit etwa 1968 sang das Ehepaar Tichy außerdem im FDGB-Chor in Döbeln mit, gegründet 1964 vom Musiklehrer Heinz Opitz, der vorher den FDJ-Chor im Gymnasium leitete. „Er wurde vom Gymnasium weggenommen, weil er ein unbequemer Geist war“, erzählte Tichy. Viele von denen, die schon früher in Opitz´ Chor mitgesungen hatten, fanden sich später wieder zusammen – darunter eine Menge Lehrer.
Opitz starb 1981. Seitdem ist Stefan Tichy Leiter gewesen. „Das Schönste waren der Zusammenhalt unter den Sängern und die Erlebnisse, die wir uns geschaffen haben“, sagte Tichy. Der Chor trat auch bei offiziellen Anlässen wie dem Republikgeburtstag auf. „Wir mussten manchmal die Programme bei der SED-Kreisleitung einreichen. Die wollten keine Lieder, die zu viel mit Kirche zu tun hatten“, erzählte Tichy. Nach der Wende wurde aus dem FDGB-Chor der Stadtsingechor. Und auch das geistliche Liedgut hielt Einzug ins Repertoire.
Heute singen dort 45 Frauen und Männer. Viele sind miteinander alt geworden – einige sind von Anfang an dabei. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zum Gesangsverein werden“, sagte Tichy. „Ein bisschen Leistung muss schon noch da sein.“ Mit seinem letzten Konzert in der Nicolaikirche war der Chorleiter sehr zufrieden. „Ich hätte nicht gedacht, dass so eine gute Qualität kommt.“ Weil er viel krank war, hatten oft Proben ausfallen müssen. Aber unter der Anspannung eines Konzerts laufe der Stadtsingechor zu Höchstleistungen auf, sagte der 73-Jährige.
Etwas hatte sich in 53 Jahren nie geändert – der Chor traf sich immer am Mittwoch zur Probe. Mit dieser Tradition wird jetzt gebrochen. Proben mit der neuen Chorleiterin finden immer donnerstags statt. Und das aus rein praktischen Erwägungen: Kantor Häntzschel probt mit der Kantorei immer mittwochs. Im Fall der Fälle könnte er seine Frau dann donnerstags vertreten.