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Wenn Essen zum Kampf wird

Plötzlich zählt jede Kalorie: Der SZ erzählt eine Meißnerin die Geschichte von der Magersucht ihrer Tochter und den Folgen.

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© Symbolbild/dpa

Von Marcus Herrmann

Meißen. Katja Mangold wächst mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester im Haus der Eltern in Meißen-Zaschendorf auf. Es ist eine behütete Kindheit. Katja besucht das Gymnasium Franziskaneum, hat sehr gute Noten, einen großen Freundeskreis und weiß, was sie will. Das Abi im Jahr 2005 schließt die heute 31-Jährige mit teilweise außerordentlichen Leistungen ab. „Sie war immer total ehrgeizig, manchmal fast zu perfektionistisch für einen Teenager“, sagt ihre Mutter Frauke heute über die ältere ihrer zwei Töchter. Dass die 57-Jährige die Geschichte erzählt, was mit Katja nach ihrem Abitur passierte und wie sich eine Krankheit einer ganzen Familie ermächtigt, ist nicht selbstverständlich. Deshalb werden die richtigen Namen der Betroffenen in diesem Text nicht zu lesen sein. Sie heißen eigentlich anders. Der Fall aber stimmt. Es ist der Fall einer Magersüchtigen. Er beginnt im Jahr nach ihrem Abitur.

„Katja war immer sehr sprachbegabt, mochte Medien und Dinge zu organisieren. Weil es ihr unter anderem das Spanische angetan hatte, bewarb sie sich für ein Praktikum bei einer Zeitung in Südspanien“, erinnert sich die Meißnerin. Katja spekuliert darauf, die zunächst auf sechs Monate angelegte Arbeit bei der Zeitung länger fortzusetzen.

Es macht ihr Spaß, sie wird gefordert, mag die spanische Lebensart und erlebt am Mittelmeer viele unvergessliche Momente mit ihren Kollegen. Zu dieser Zeit wiegt Katja um die 55 Kilo. Bei einer Größe von 1,76 Meter. Eine schlanke, hübsche, gesunde Frau. „Aus einem halben Jahr wurde später ein ganzes. Währenddessen kam Katja uns einige Male besuchen und uns fiel schon auf, dass sie von mal zu mal etwas mehr auf den Hüften hatte“, sagt die Mutter. Es muss wohl am guten spanischen Essen und anderen Essgewohnheiten liegen. Gesagt habe man nie was, es sah ja auch immer noch gut aus. Doch kurz vor der Rückkehr aus Spanien schaut sich Katja immer öfter Bilder von früheren Urlauben an, sieht sich im Bikini am Strand, mit eng anliegenden Kleidern unterwegs mit Freunden. „Sie dachte plötzlich, sie sei zu dick, müsse abnehmen, um wieder so auszusehen“, erzählt Frauke Mangold.

Nach der Rückkehr von der iberischen Halbinsel ist Katja drei Monate zu Hause. Sie treibt viel Sport, beginnt sich sehr bewusst zu ernähren, vermeidet Fette und Kohlenhydrate. „Nach der Zwischenetappe zu Hause hat Katja dann ein Praktikum in München angenommen, dort auch eine Wohngemeinschaft gefunden.“ Mit ihrer offenen Art findet die damals 20-Jährige schnell Anschluss. Aber mit jedem Mal, das sie ihre Familie in Meißen besucht, wird Katja dünner. „Ich mache bloß Sport und ernähre mich gesund“, gibt sie zur Antwort, als die Eltern sie eines Tages fragen, ob alles in Ordnung sei, sie sich vielleicht krank fühle. Sie wiegt jetzt deutlich unter 50 Kilo, eignet sich ein fast schon manisches Wissen über jegliche Lebensmittel an. Wie viele Kalorien, Fett, Kohlenhydrate, Zucker? Katja kennt die Antwort.

Es ist Weihnachten 2010. Zu dieser Zeit ist Katja 23 Jahre alt. Sie hat erfahren, dass es in München mit einem festen Job wohl nichts mehr wird. Eine Stelle wird ihr zwar angeboten. Aber das Gehalt ist für Münchner Verhältnisse geradezu lächerlich. Am Telefon raten ihr die Eltern, nach Meißen zurückzukehren, hier in der Heimat ihr Glück zu versuchen.

Letztlich stimmt die Tochter zu. Doch die Rückkehr zur Familie zur vermeintlich schönsten Zeit des Jahres gerät zum Offenbarungseid. „Sie erklärte uns, dass ein Hausarzt in München bei ihr eine Anorexie, also Magersucht, diagnostiziert hatte und sie professionelle Hilfe braucht“, erinnert Frauke Mangold den Schockmoment. Katja erzählt, wie sie sich ein Limit für jeden Tag setzt, wie viele Kalorien sie zu sich nehmen darf. Bei maximal 1 400 ist Schluss. Meist ist es weniger – und natürlich immer viel Fitnesssport.

Ein Frühstück der Mittzwanzigerin besteht damals aus einem großen Glas Wasser und einem Glas Orangensaft, körnigem Frischkäse und vielleicht noch einem Bio-Müsli – natürlich fettreduziert. Mittags habe es meistens grünen Salat, Rohkost und Nüsse gegeben, abends nicht mehr als Gemüse, Linsen oder Bohnen, Fetakäse oder Bulgur. „Und immer reichlich Wasser“, sagt ihre Mutter. Obst wie Äpfel oder Bananen lehnt Katja vollends ab. Einfach zu viel Zucker. Weil Katjas geschwächter Körper bald nur noch 42 Kilo auf die Waage bringt, trotzdem jeden Tag Fitnesssport ansteht, sucht sich die Familie die von dem Münchner Arzt geforderte Hilfe. Eine Fachklinik im Kurort Bad Oeynhausen in Nordrhein-Westfalen nimmt Katja auf. „Am Tag der Aufnahme hat sie 39,5 Kilo gewogen“, sagt Frauke Mangold und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht.

Die Belastung für die Familie ist groß. „Uns war klar, dass es lebensbedrohlich wird, wenn es so weiter geht“, sagt sie. Ein halbes Jahr ist Katja 2011 in der Klinik, die Behandlung zahlt die Krankenkasse. Als sie rauskommt, wiegt sie wieder 42 Kilo. Bis heute. Katja hat inzwischen einen Bürojob und eine Wohnung in Dresden. „Doch zu essen gleicht immer noch einem Kampf“, sagt Mutter Frauke. Mehrfach seien sie und ihr Mann beim gemeinsamen Essen regelrecht verzweifelt. „Mal möchte man schreien, mal möchte man weinen. Man findet kaum eine Möglichkeit, das ständige Kalorienzählen zu vermeiden. Einkäufe mit Katja dauern manchmal Stunden.“ Obwohl Katja 2014 eine zweite Therapie in der Klinik durchlebt, macht es danach nicht „Klick“. Ihr Verhalten ändert die junge Frau nicht. Natürlich mache man sich Vorwürfe, sogar sehr oft“, sagt ihre Mutter. Doch der Zugang zu Magersüchtigen ist gerade für Eltern oft fast unmöglich.

„Vielleicht findet sie ja bald einen Freund, gründet irgendwann eine Familie. Das könnte ein Impuls hin zu einem anderen Leben sein“, hofft Frauke Mangold. Sie selbst besucht heute regelmäßig eine Meißner Selbsthilfegruppe für Angehörige von Essgestörten. Es hilft ihr, mit der Situation klarzukommen. Was anderes, sagt sie, könne sie nicht machen. Wenn sie ihre Tochter fragt, ob ihr klar sei, dass sie sterben könnte, wenn sie nicht zu einem normalen Essverhalten findet, antwortet Katja: „Dann hatte ich wenigstens ein schönes Leben.“ Es ist eine Ohnmacht. Sie geht nicht weg.

Selbsthilfegruppe für Angehörige von Essgestörten in Meißen: www.mary-meissen.de/projekte/selbsthilfegruppe