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Wenn Patriotismus Ost auf Nationalismus West trifft

Was beförderte den Aufschwung der Neuen Rechten? Vier Historiker stellen ihre spannende Studie in Dresden vor.

Von Oliver Reinhard
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Neonazis marschieren 1991 durch Dresden. Als deren West-Kader in den Osten kamen, waren sie überrascht, wie viele „Kameraden“ es hier bereits gab.
Neonazis marschieren 1991 durch Dresden. Als deren West-Kader in den Osten kamen, waren sie überrascht, wie viele „Kameraden“ es hier bereits gab. © Patrick Piel / Getty

Sie waren nie weg. Weil Nationalismus und Rassismus nicht an politische Systeme gebunden sind, sondern an Menschen und Gesellschaften, gingen sie 1945 auch nicht mit dem „Dritten Reich“ zugrunde. Im Gegenteil lebten sie in und mit den Deutschen munter fort. Im Westen offen, unübersehbar und beileibe nicht allein auf die Anhänger der rechtsextremistischen Parteien beschränkt. Im Osten ebenso, wenn auch weniger sichtbar unter der Decke des vorgeblich Staat und Gesellschaft gewordenen Antifaschismus.

Ohne das Zusammenwirken von Nationalismus West und Heimatpatriotismus Ost nach 1990 und ohne das lange gesamtdeutsche „Ausblenden“ dieser rechtsextremen Kontinuitäten wäre es niemals zum Aufschwung der sogenannten Neuen Rechten gekommen. Zu einer Gegenwart, in der „die liberale Demokratie als Staats- und Lebensform auch in Deutschland vor Herausforderungen wie nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ steht.

So sieht sie aus, die Lage der Nation, in der analytischen Perspektive eines Historikerquartetts um den Jenaer Professor Norbert Frei. Zum ersten Mal hat sich mit ihm, Franka Maubach, Christina Morina und Maik Tändler ein ganzes Team von Geschichtswissenschaftlern auf Ursachenforschung für den neuen Boom des Nationalismus in Deutschland begeben, nicht von Politologen oder Soziologen. Ihre geradezu sinnlich „Zur Rechten Zeit“ titelnde Studie nimmt also weniger das Jetzt und die letzten Jahre seit maximal 1990 in den Fokus. Vielmehr die historischen Entwicklungslinien, „Karriere“ und Tradition des Rechtsextremismus in der ganzen Geschichte des geteilten, dann wiedervereinigten Landes.

„Schlussstrich“ in West und Ost

Zwei von vielen Ergebnissen: Ostdeutschland „spielt als ,Experimentierküche‘ in dieser neurechten Aufstiegsgeschichte die entscheidende Rolle“. Gleichwohl ist dieser Boom – trotz der Konzentration vieler Analysten und Medienberichte auf den Osten – ein „gesamtdeutsches Problem“. Das wird in der Langzeit-Analyse von Frei & Co. besonders deutlich. Am Mittwoch kommen die Wissenschaftler nach Dresden und stellen ihre Publikation in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek vor.

Freilich weisen ihre Rückblicke auch auf die Unterschiede beider deutscher Staaten im gesellschaftlichen und juristischen Umgang mit dem „Erbe“ der NS-Zeit hin. Während nach 1945 im Osten zunächst eine konsequentere und radikalere „Entnazifizierung“ stattfand, ging die junge Bundesrepublik sehr viel großzügiger und teils durchaus skandalös mit ihren belasteten Bürgern um. So durften sich viele Ehemalige sicherer fühlen und Karrieren teilweise nahezu bruchlos fortsetzen. Auch und gerade in der Justiz. Mit der Folge, dass sich im Westen offen oder verdeckt neonazistische Parteien neugründen und Nationalismus und Rassismus bis in die bürgerliche Mitte hinein frei artikulieren konnten und sichtbare Konstanten blieben.

Hüben wie drüben wurde minder Belasteten die Chance zur Rehabilitierung als geläuterte und produktive Sozialisten beziehungsweise Demokraten eingeräumt, zumal die Westalliierten und die Sowjets die Entnazifizierung noch in den Vierzigern offiziell für beendet erklärt hatten. Die permanenten und schon kurz nach Kriegsende in der BRD aufkommenden Forderungen nach einem „Schlussstrich“ unter das NS-Thema fanden in der SBZ und dann in der DDR jedoch kein Pendant. Denn mit der Erklärung der DDR zum Antifaschistischen Staat gab es hier auch keinen offiziellen Grund mehr, über gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Deutschen für die Vergangenheit zu debattieren. Weil die Nazis immer nur die anderen im Westen waren und die DDR sich zum Kollektiv von Unschuldigen erklärte, fungierte das Antifaschismus-Dekret als eine Art Schlussstrich. Fortan konnte man gereinigten Gewissens an die NS-Verbrechen erinnern, was auch intensiv geschah und zum festen Bestandteil der Alltagskultur wurde.

Zugleich, so bilanzieren die Historiker, förderte und betonte die Staatsführung der DDR Werte wie Heimat, Bräuche und Volkstum intensiv, was nachgerade in traditionellen Regionen wie Sachsen viele Früchte trug. Insbesondere dieser Lokal- und Regionalpatriotismus, der das Eigene ja immer höher stellt als das andere und Fremde, sei eine Quelle gewesen und geblieben, aus der die Neue Rechte fleißig schöpfen kann.

Im Westen hat es vor und nach 1968 immer wieder kontroverse Debatten über die NS-Zeit gegeben. Doch Ausländerfeindlichkeit bis hin zum Rassismus brachen sich seit den Siebzigern intensiv Bahn. Damals holten die „Gastarbeiter“ ihre Familien nach, ließen sich dauerhaft nieder, wurde die BRD vor allem für muslimische Menschen aus der Türkei endgültig zum Einwanderungsland. Und die skeptische Indifferenz vieler Alteingesessener gegenüber „Ausländern“ zu offener Ablehnung.

Besonders aha-erlebnisreich sind die Ausführungen von „Zur Rechten Zeit“, wenn sich in der Rückschau Parallelen zur Gegenwart geradezu aufdrängen. Etwa wenn die NPD seit den Sechzigern zum Sammelbecken für alte und neue Nazis wird, aber auch für viele Konservative, die mit Errungenschaften der Moderne nicht klarkommen. Oder wenn die Republikaner in den Achtzigern gegen die „Altparteien“ wettern, angesichts der Einwanderung von drohender „Überfremdung“ und „Volkstod“ schwadronieren und als Gegenmittel die Wahrung und den Schutz der „Nationalen Identität“ fordern.

Seltsam leer bleibt indes jene Stelle im Buch, wo man Ausführungen zur parallelen Entwicklungen des Rechtsextremismus in der DDR erwartet. Der war ebenfalls niemals weg, wurde aber lange von oben als „Rowdytum“ verharmlost – weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte – und erst in den späten Achtzigern systematisch erforscht und zögerlich bekämpft.

Deutsches Multi-Organversagen

Dieses unerwartet großes Potenzial war rechten West-Kadern nach 1989 höchst willkommen, als sie herkamen, es organisierten, ihm Strukturen gaben. Auch hier dämmern Analogien herauf: Die meisten führenden Köpfe der AfD wie Alexander Gauland, Björn Höcke, Steffen Kalbitz, Jens Maier und Höckes Mentor Götz Kubitschek sind ebenfalls West-Importe.

Mit der Wiedervereinigung setzte sich die Sicht auf die Genese der Bundesrepublik durch als eine steinige, aber große und schöne Erfolgsgeschichte, trotz einiger aufsehenerregender fremdenfeindlicher Anschläge Anfang der Neunziger. Genau dieser überbelichtete Blick, folgern Norbert Frei und sein Team, habe zur Verbreitung der Auffassung geführt, in einer starken und gesunden Demokratie zu leben, wo Nationalismus und Rassismus im Abklingen seien. Für so groß halten die Autoren diesen Irrtum, dass sie von einem deutschen „Multi-Organversagen“ schreiben. Was verstehen kann, wer bedenkt, wie lau bis unentschlossen zentrale Entscheidungsträger umgingen mit den Verwerfungen der Wiedervereinigung, der EU-Finanz- sowie der sogenannten Flüchtlingskrise. Und wie lange Nationalismus und Rassismus auch in Sachsen kleingeredet wurden.

Für Frei & Co. steht außer Frage: Der Aufschwung der Neuen Rechten ist zwar ein gesamtdeutsches Phänomen, er wäre aber ohne den Osten in diesen Dimensionen undenkbar gewesen. Die AfD als größtes Sammelbecken für konservative bis rechtsextreme Menschen appelliert geschickt an die hier stärker vorhandenen Enttäuschungen und Ängste sowie an den ebenso weit verbreiteten wie tief empfundenen Regionalpatriotismus. Damit trifft sie „den Nerv eines historisch gewachsenen Politikverständnisses, das zwischen Mitsprachebedürfnis, Ohnmachtsgefühlen, Anspruchsdenken und einer mangelerprobten Zupackmentalität changiert“. Zudem sei die ostdeutsche Gesellschaft, anders als die westdeutsche, in der Rückschau gleich durch zwei historische „Mitwirkungsversprechen“ enttäuscht und verraten worden: NS-„Volksgemeinschaft“ und sozialistische „Menschengemeinschaft“.

Für manchen Ostdeutschen darf man wohl das Mitmachversprechen der Repräsentativen Demokratie als dritte Enttäuschungserfahrung hinzufügen.

Frei/Maubach/Morina/Tändler: Zur Rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Ullstein, 256 S., 20 € 

Buchvorstellung und Diskussion am 6. März um 19 Uhr in der Zentralbibliothek, Zellescher Weg 18, Dresden

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