Merken

Wenn Zahlen nicht logisch sind

In der Gellertstraße werden Kinder und Jugendliche therapiert, die unter einer Rechenschwäche leiden. Das Angebot ist stark nachgefragt.

Teilen
Folgen
© Matthias Schumann

Von Nina Schirmer

Radebeul. Immer und immer wieder die gleiche Aufgabe und jedes mal klappt es aufs Neue nicht. Wenn Eltern mit ihren Kindern Mathe üben, können solche Situationen irgendwann zur Verzweiflung führen. Und zwar auf beiden Seiten. Mutter und Vater sind frustriert, weil das Kind einfach nicht zu begreifen scheint. Die Schüler fühlen sich selbst irgendwann zu dumm und haben Angst, ihre Eltern zu enttäuschen.

Constance Schlüssler kennt das zur Genüge. Die Psychologin arbeitet im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) auf der Gellertstraße in Radebeul-Ost. Dort werden Kinder und Jugendliche therapiert, die nicht logisch mit Zahlen umgehen können und kein Mengenverständnis haben. In der Folge können sie mathematische Gedanken nicht richtig verstehen. Das hat nichts mit geminderter Intelligenz zu tun. Auch Abiturienten kommen in die Therapiestunden. Die Rechenschwäche muss man sich vielmehr wie eine Blockade im Kopf vorstellen, die gelöst werden muss. Und immer gelöst werden kann.

Das Positive: Anders als bei Sprachproblemen, kann eine Rechenschwäche in jedem Alter behandelt werden, sagt Constance Schlüssler. „Mit 15 Jahren ist es schon nicht mehr möglich, eine Sprache ganz akzentfrei zu lernen. Aber eine Rechenschwäche geht immer weg.“

Deshalb sei ihr Job für sie der schönste auf der Welt. „Weil er immer erfolgreich ist.“ Zumindest fast immer. Denn was so leicht klingt, bedeutet trotzdem harte Arbeit. Manche Eltern brechen die Therapie ihrer Kinder vorzeitig ab, weil sie ihnen zu lange dauert. In der Regel müssen die Kinder und Jugendlichen 1,5 bis zwei Jahre ins ZTR kommen. Constance Schlüssler hatte auch schon mal eine Fünftklässlerin, die nur ein halbes Jahr gebraucht hat. Bei anderen dauert es drei Jahre.

Im Therapiezentrum liegen Würfel auf dem Tisch. Für die Therapeutin sind sie ein wichtiges Übungsmittel. Denn oft können sich die Kinder vermeintlich einfachste Dinge nicht vorstellen, die anderen absolut logisch erscheinen. Zum Beispiel, dass sechs kleine Würfel genauso viele sind wie sechs große Würfel. Manche denken auch, dass in einer Reihe mehr Würfel liegen, weil sie weiter auseinander geschoben sind, als in einer anderen Reihe mit identisch vielen Würfeln. Auch für viele schwer zu verstehen: Wenn Person A und Person B gleich viele Würfel vor sich liegen haben und Person A gibt B einen ab, dann hat B nicht nur einen Würfel mehr als A, sondern zwei.

Ein fehlendes Mengenverständnis fällt in der Regel schon im Kindergarten auf, sagt Constance Schlüssler. Zum Beispiel glauben manche Kinder, dass sie mehr Tee haben, wenn ihr Getränk von einem breiten in ein höheres Glas geschüttet wird. Nicht erst die Schulen, sondern schon die Kindergärten haben einen Bildungsauftrag. Die Erzieher müssten eine Rechenschwäche deshalb schon bemerken, sagt die Psychologin.

Genaue Zahlen dazu, wie viele Menschen von einer Rechenschwäche betroffen sind, gibt es nicht. „Die Schulen sprechen von sieben bis zehn Prozent. Wir denken, dass es noch mehr sind“, sagt Constance Schlüssler.

Meist werden die Betroffenen in der Schule aber noch irgendwie mitgezogen. Die Lehrer sagen oft, dass sich die Matheprobleme schon noch geben. Auf der einen Seite nachvollziehbar, findet die Therapeutin. Schließlich hätten die Pädagogen viele Kinder mit sehr unterschiedlichem Leistungsstand in den Klassenzimmern sitzen. Andererseits weiß die Psychologin, dass eine Rechenschwäche nicht einfach verschwindet. „Wenn es durch einfaches Üben weggehen würde, hätten die Eltern es schon geschafft.“ Spätestens ab der dritten Klasse könnten die Schüler dann nicht mehr alles an den Fingern abzählen oder Lösungsansätze wie ein Gedicht auswendig lernen.

Ins Zentrum für Rechenschwäche in Radebeul kommen derzeit rund 30 Kinder und Jugendliche. Im Moment sind die Therapiestunden ausgebucht. Im Institut wird ein Verständnis für Zahlen, das Zahlensystem und Rechenoperationen aufgebaut. Daran anschließend werden arithmetische Fertigkeiten vermittelt. ZTR-Standorte gibt es in vielen Bundesländern. Auch für Erwachsene werden Therapien angeboten.