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Wie der Fall Linda W. Pulsnitz verändert hat

Wie konnte sich das 15-jährige Mädchen unbemerkt dem IS anschließen? Diese Frage beschäftigt die Stadt bis heute.

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© ndr/ARD

Von Jana Ulbrich

Pulsnitz. Und das hier wird der Garten! Christoph Semper zeigt auf ein wild verwuchertes Stückchen Hinterhof. Heute Nachmittag wollen die Jugendlichen anfangen, die Gartenmöbel zu bauen. Aus alten Europalletten wollen sie sie zusammenzimmern. Christoph Semper freut sich sehr, mit wie viel Elan seine Schützlinge daran gehen, sich in ihrem neuen Jugendclub einzurichten. Seit ein paar Wochen haben die jungen Leute wieder einen Treffpunkt in Pulsnitz. Und Sozialarbeiter Semper ist kein Einzelkämpfer mehr.

Die Jugendlichen brauchen verlässliche Ansprechpartner, die immer eine offene Tür für sie haben, sagt Christoph Semper. Der 31-Jährige ist Sozialarbeiter in Pulsnitz. Die Stadt hat jetzt wieder einen Jugendclub, die Oberschule eine Schulsozialarbeiterin.
Die Jugendlichen brauchen verlässliche Ansprechpartner, die immer eine offene Tür für sie haben, sagt Christoph Semper. Der 31-Jährige ist Sozialarbeiter in Pulsnitz. Die Stadt hat jetzt wieder einen Jugendclub, die Oberschule eine Schulsozialarbeiterin. © Uwe Soeder

Gesprächsthema in der Stadt

Ein bisschen haben das die Pulsnitzer Jugendlichen auch Linda W. zu verdanken, jenem Mädchen, das in den Sommerferien 2016 nach der 9. Klasse heimlich in den Nahen Osten aufgebrochen war, um für die Ideale des Islamischen Staats zu kämpfen, das ein reichliches Jahr später in Mossul von irakischen Soldaten aufgegriffen und festgenommen wurde, und das jetzt – als 17-Jährige – im Irak zu sechs Jahren Haft verurteilt worden ist. Ihr Schicksal beschäftigt die Pulsnitzer nach wie vor. Überall ist es Thema in den Gesprächen. Und bis heute stellen sich viele die Frage, wie das alles überhaupt hat passieren können.

„Wir haben das damals wahrscheinlich alle nicht ernst genug genommen“, sagt Johanna, eine ehemalige Mitschülerin. „Linda hat uns zwar immer erzählt, dass sie da im Internet jemanden kennengelernt hat“, sagt die 17-Jährige. „Sie fand das auch ganz toll mit dem Islam. Aber dass sie soweit gehen würde?“ Johanna hätte das niemals für möglich gehalten. Und alle anderen in ihrem Umfeld auch nicht. Jetzt, sagt Johanna, würden sie sich alle Vorwürfe machen: die Freunde, die Lehrer und vor allem Lindas Mutter, der es sehr schlecht geht.

Meinungen der Einwohner gespalten

Aus Pulsnitz in den Heiligen Krieg

1. Juli 2016:

Linda W. fliegt über Frankfurt/Main nach Istanbul, dort verliert sich ihre Spur. Es besteht der Verdacht, dass sich die damals 15-Jährige der Terrororganisation Islamischer Staat anschließen will.

1. Juli 2017:

Ein Jahr nach dem Verschwinden fehlt von dem Mädchen jede Spur. Die Staatsanwaltschaft vermute, dass sich Linda in Syrien oder dem Irak aufhält, der genaue Aufenthaltsort sei aber nicht bekannt. Auch habe man keinerlei Kontakt zu ihr.

Mitte Juli 2017:

In der irakischen Stadt Mossul werden in einem Tunnelsystem etwa 20 ausländische IS-Angehörige festgenommen. Auf Fotos ist eine junge Frau zu sehen, bei der es sich um Linda W. handeln soll. Wenige Tage später bestätigt sich die Vermutung. Nach ersten Berichten erlitt die 16-Jährige eine Schusswunde am Oberschenkel. Sie wird in der Krankenstation eines Militärkomplexes in Bagdad untergebracht.

August 2017:

Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe übernimmt den Fall. Sie ermittelt gegen Linda W. wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Organisation.

September 2017:

Die irakische Justiz eröffnet ein Strafverfahren gegen Linda W.

Dezember 2017:

Reporter von NDR, SWR und Süddeutscher Zeitung treffen Linda W. zu einem Interview. Die 17-jährige Schülerin spricht erstmals über ihre Zeit bei der Terrormiliz. Sie bereue, ihren Schritt, sagte sie den Reportern. Zugleich betonte sie, sie habe nie an Kämpfen teilgenommen.

Februar 2018:

Ein Jugendgericht in der irakischen Hauptstadt Bagdad verurteilt Linda W. zu einer sechsjährigen Haftstrafe. Medienberichten zufolge wurde die Jugendliche wegen der Mitgliedschaft in der Terrormiliz IS zu fünf Jahren und wegen der illegalen Einreise in den Irak zu einem Jahr Haft verurteilt.

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„Linda hatte hier viele Freunde, es hat sie jeder gemocht“, erzählt Johanna. Und dass ihr jetzt nicht die Todesstrafe droht, darüber sei sie sehr froh. „Ich wünsche ihr, dass sie die sechs Jahre im Gefängnis gut übersteht“, sagt die ehemalige Mitschülerin. „Linda hat auch die Chance verdient, zurückzukommen zu ihrer Familie und hier neu anzufangen.“ So wie Johanna denken nicht alle in Pulsnitz. Die Meinungen der Einwohner sind gespalten, vor allem in Internetkommentaren wird viel Unverständnis, ja sogar Hass deutlich. Sie soll bleiben, wo der Pfeffer wächst, gehört da noch zu den harmlosen Äußerungen.

Der Fall Linda W., er hat die verträumte Pfefferkuchenstadt verändert. Obwohl sich so eine Geschichte wohl überall hätte ereignen können. Die Ernst-Rietschel-Oberschule hat jetzt eine Schulsozialarbeiterin, und Christoph Semper ist nicht mehr der Alleinkämpfer für die ganze Stadt und sechs umliegende Gemeinden. „Die Jugendlichen brauchen verlässliche Ansprechpartner, die immer eine offene Tür für sie haben“, sagt der 31-Jährige. Nach Lindas Verschwinden ist viel diskutiert worden. Auch darüber, wie sich so etwas künftig verhindern lässt.

Aufklärung über die Methoden des IS

Semper verteilt unter den Jugendlichen Handreichungen, die darüber aufklären, mit welchen perfiden Methoden der IS in den sozialen Netzwerken Jugendliche anwirbt. Auch in der Schule wird das jetzt oft und regelmäßig thematisiert. „Der Fall ist ein absoluter Einzelfall geblieben“, sagt die Pulsnitzer Bürgermeisterin Barbara Lüke. Aber er habe eben auch gezeigt, dass so etwas passieren kann. Umso wichtiger sei es jetzt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Bürgermeisterin schlägt zum Beispiel eine zentrale Notrufnummer vor, über die Hilfesuchende im Krisenfall schnell und unkompliziert an zuständige Stellen in den Regionen weitergeleitet werden können, eben wenn Menschen in obskure Milieus abdriften oder sich wie im Fall Linda radikalisieren: „Das ist ein politisches Thema, was mich als Bürgermeisterin umtreibt“, sagt sie. Sie will auch nicht, dass die Stadt in der öffentlichen Wahrnehmung auf diesen Fall reduziert wird. „Pulsnitz ist für uns alle hier nach wie vor die Pfefferkuchenstadt. Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern.