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Wie ein Hund einem autistischen Kind hilft

Vor einem Jahr zog der Begleithund Lima bei Ben ein. Für seine Eltern war das ein Kraftakt, der sich längst bezahlt gemacht hat.

Von Henry Berndt
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Zur Freude von Papa Marc hat Ben seine anfängliche Scheu gegenüber Lima inzwischen abgelegt.
Zur Freude von Papa Marc hat Ben seine anfängliche Scheu gegenüber Lima inzwischen abgelegt. © Sven Ellger

Endlich geht die Schule wieder los! "Ferien mögen wir nicht so sehr", sagt Sarah Kausmann. "Da ist immer alles so durcheinander." Seit Montag hat ihr Sohn Ben seinen Alltag zurück, seine Routinen, die er braucht, um sich wohlzufühlen. 

Bevor der Neunjährige sich auf den Weg zur Schule macht, legt er Lima noch die rote Weste und die Leine an. Der weiße Golden Retriever wurde speziell für die Begleitung von Autisten ausgebildet. Er hört nicht nur besonders gut, sondern lässt sich auch sehr gern knuddeln.

Jeden Morgen führt Ben Lima an der Leine bis zur Schule. Mama muss im Hintergrund nur noch die Kommandos geben. "Sitz" und "Fuß" kann Ben inzwischen aber auch schon allein sagen. "Es ist quasi schon eine erste Therapiestunde am Morgen", sagt sie.

Noch bis vor wenigen Monaten lief Ben immer an der Hand von Mama und Papa und schaute lieber nach den Bussen und Bahnen statt auf den Weg vor ihm. Jetzt trägt er Verantwortung für einen Hund. "Für Ben ist das ein unheimlicher Schritt nach vorn", sagt Sarah Kausmann. "Ich hätte nie geglaubt, dass das so schnell so gut funktioniert."

Ben ist ein besonderer Junge. Er kam 2010 als extremes Frühchen auf die Welt, wog gerade einmal 540 Gramm. Durch eine schwere Hirnblutung kurz nach der Geburt wurden Teile seines Gehirns geschädigt. Er wird sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein. Aber er kann lernen.

Der Plüschhund, den Ben noch vor einem Jahr am liebsten knuddelte, wird heute kaum noch beachtet. 
Der Plüschhund, den Ben noch vor einem Jahr am liebsten knuddelte, wird heute kaum noch beachtet.  © Christian Juppe

Ein Hund, so hofften die Eltern, könnte Ben ausgeglichener machen und seine ständigen Wutanfälle in Grenzen halten, die durch frühkindlichen Autismus ausgelöst werden. Doch ein besonderes Kind braucht auch ein besonderes Tier. Für die Ausbildung eines Autismusbegleithundes musste die Familie 28.000 Euro zahlen. Da die Krankenkasse sich nicht an den Kosten beteiligte, gingen die Kausmanns an die Öffentlichkeit und sammelten über Monate hinweg erfolgreich Spenden. Auch die Stiftung Lichtblick beteiligte sich.

Bevor Lima im Dezember 2018 in die Familie kommen konnte, wurde er ein Jahr lang durch den Verein Rehahunde Deutschland ausgebildet. Eine Trainerin des Vereins begleitete dann direkt in der Wohnung eine Woche lang das erste gegenseitige Beschnuppern. Dann erst überließ sie Lima Ben und seiner Familie. Offiziell bleibt der Hund weiter im Besitz des Vereins und wird der Familie dauerhaft als „Reha-Hilfsmittel“ zur Verfügung gestellt.

Und wie reagiert Ben? In den ersten Tagen und Wochen wagte sich der Neunjährige kaum in Limas Nähe und schmuste lieber mit seinem großen Stoffhund. An Streicheln war nicht zu denken. Nach und nach aber gewann er Vertrauen, merkte, dass dieses Tier ihm gut tut.

Nun, ein Jahr später, gehört Lima immer dazu, wenn abends die Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen werden. Neben den Wegen zur Schule und zurück geht Ben oft auch freiwillig mit Papa auf die Abendrunde. Besonders, wenn Stress droht, fühlt sich Ben im Limas Gegenwart wohler, traut sich inzwischen sogar an seine Schnauze und spürt den warmen Atem in seinem Gesicht. Die Plüschhundvariante staubt dagegen weitgehend unbeachtet vor sich hin.

Die Eltern sind sich sicher, dass Lima einen großen Anteil daran hat, wie gut Ben sich in den vergangenen Monaten entwickelt hat. Er geht jetzt in die zweite Klasse, kommt im Unterricht gut mit. "Fußball und Mathe ist super", sagt Marc, aber auch bei den Buchstaben habe er sein Lernziel schon früher erreicht als gedacht.

Hundetrainerin Selina Haase (l.) wird kommende Woche noch einmal in die Familie kommen.
Hundetrainerin Selina Haase (l.) wird kommende Woche noch einmal in die Familie kommen. © Christian Juppe

Zu Hause in Striesen sitzt Ben zurzeit besonders gern in der Kuschelecke im Zimmer seiner Schwestern. Luca wurde 2017 geboren. Im vergangenen Sommer kam die kleine Milou dazu. Langweilig wird es also nicht. Die Wohnung ist ein einziges großes Spieleparadies. Die Meerschweinchen können sich in einer riesigen hölzernen Burganlage austoben. Das lange Regal daneben ist vollgepackt mit Brettspielen. Auch die Kinderzimmer sind liebevoll eingerichtet und spiegeln viel von dem Glück wider, das Sarah und Marc empfinden - und zu dem längst auch Lima gehört.

Ab kommender Woche will sich davon auch die Hundetrainerin noch einmal selbst überzeugen. Eine weitere Woche lang wird Selena Haase, ausgebildete Ergotherapeutin aus Rostock, noch einmal zur Nachschulung in die Familie kommen. "Sicher kann sie noch einige Tipps geben und vielleicht ein paar therapeutische Übungen zeigen", sagt Sarah Kausmann, die zugleich hofft, dass Lima inzwischen schon etwas weniger auf sein früheres Frauchen geprägt ist.

Im April wird Lima drei Jahre alt, ist jetzt ein Heranwachsender. "Im vergangenen Frühjahr hatten wir nochmal einen kleinen Knick, als er anfing, aufzumüpfen, nicht mehr so gut gehört hat, und Schuhanzieher angeknabbert hat." Nur in dieser Phase wandte sich die Familie das eine oder andere Mal hilfesuchend an die Trainerin. Der Spuk habe allerdings nur wenige Wochen gedauert. Dann sei die Hierarchie wieder geklärt gewesen.

"Lima hat sich wunderbar in unser Leben eingefunden", sagt die Mutter. Am liebsten holt er Stöckchen, spielt Frisbee und sucht versteckte Dinge. Und Ben ist immer mittendrin. Einfach mal ausgelassen toben dürfen die beiden natürlich auch. Aber lieber draußen. Zur Sicherheit für Baby, Einrichtung und Meerschweinchen. 

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