Merken

Wie lange sollen Schüler gemeinsam lernen?

In Sachsen entsteht ein neues Schulgesetz. Zeit für eine Strukturdebatte, sagen die einen. Bloß nicht, die anderen.

Teilen
Folgen
© Symbolfoto: dpa

Von Carola Lauterbach

Längeres gemeinsames Lernen ist ein Begriff, der ideologisch aufgeladen ist und polarisiert. Dafür oder dagegen. Die Frage, die eigentlich im Raum stehen müsste, sagte kürzlich eine Lehrerin voller Inbrunst, sollte doch lauten: Wie fühlen sich zehnjährige Mädchen und Jungen, wenn sie aussortiert werden? Du ins Gymnasium, du in die Oberschule. Kein Kind wolle Verlierer sein. Oder sich vom besten Freund trennen müssen. Was macht das mit ihnen – unmittelbar und in ihrer weiteren Entwicklung? Und wie halten sie den Druck aus, den ihnen auch ihre Eltern lange schon vor der Entscheidung im Halbjahr der vierten Klasse machen? Natürlich aus dem einen Grund: Sie wollen das Beste für ihr Kind.

Doch wie sich jemand fühlt, ist in Kennziffern kaum auszumachen. Analysen anhand von Noten können Auskunft über die Leistungsentwicklung geben, auch in Abhängigkeit von der Schulform. Doch wie sich bei der Sachverständigen-Anhörung des Schulausschusses im Landtag zum Thema längeres gemeinsames Lernen am Freitag zeigte, lassen auch wissenschaftliche Studien hinreichend Deutungen zu.

Die Befürworter längeren gemeinsamen Lernens wollen erreichen, dass diese Möglichkeit auch in Sachsen gesetzlich zugelassen wird. Einen entsprechenden Antrag hat die Linksfraktion schon eingebracht. Eltern möchten sich des Drucks entledigen, sich im frühen Alter ihrer Kinder entscheiden zu müssen, umreißt der Vorsitzende des Landeselternrates, Peter Lorenz, eine Forderung des Gremiums. Dahinter stünden eine Million Eltern.

Schüler sollen mitreden können

Er erinnert in dem Zusammenhang an den Verfassungsgrundsatz, wonach es das natürliche Recht der Eltern sei, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen. Die vielgepriesene Durchlässigkeit im Schulsystem sei in der Praxis so nicht gegeben, so zumindest erlebten es Eltern. Mit Blick auf die demografische Entwicklung sollte Sachsen die Möglichkeit längeren gemeinsamen Lernens, was längst internationaler Standard wäre, nicht verbauen.

Unterstützung bekommt der Landeselternrat in dieser Frage von den IHKs und Handwerkskammern. Letztere, so deren Vertreter Karl-Heinz Herfort, stünden für 295 000 Unternehmen mit 1,2 Millionen Beschäftigten. Er kritisierte, dass das Thema in dem vom Kultusministerium angeregten Bürgerdialog nicht zum Gegenstand der Diskussion erhoben wurde und auf dem einschlägigen Schulgesetz-Portal nur ein Schattendasein führe. Längeres gemeinsames Lernen sei mehr als nur eine Strukturdebatte. Es eröffne jungen Leuten die Möglichkeit, in einem gewissen Alter selbst Bildungswegentscheidungen zu treffen, was wiederum zuträglich für ihre Lernmotivation sei. Welche Dimension das auf die Fachkräftesituation und damit die Zukunft Sachsens habe, machte er auch daran fest: Ein Viertel der Lehrlinge breche heute die Ausbildung ab, ein Drittel käme beim Bachelor-Studium nicht ans Ziel und 25 Prozent der Unternehmen trennten sich in der Probezeit von Neueinsteigern.

Eine Lanze für die Beibehaltung der sächsischen Schulstruktur brachen die Vorsitzenden des Philologenverbandes, Frank Haubitz, und des Sächsischen Lehrerverbandes, Jens Weichelt. Wenn auch mit deutlich unterschiedlicher Ausrichtung. In heterogenen Schülergruppen sei die Leistungsspanne zu groß, was zulasten der fachlichen Förderung und sozialen Entwicklung gehe, so Haubitz. Der Lernerfolg in homogenen Schülergruppen sei nachgewiesenermaßen höher. Die meisten der 10 000 Mitglieder seines Verbandes, so Weichelt, würden längeres gemeinsames Lernen als Schüler bzw. Lehrer der DDR-Schule kennen – und hätten sich daher 1990 für eine leistungsgerechte Schule entschieden.

Prof. Kurt Heller, Psychologe von der Ludwig-Maximilians-Uni München, widerlegte anhand von Studien Mythen der Bildungsdiskussion und sprach sich vehement für die Überlegenheit des gegliederten Schulsystems aus. Jede Zuspitzung in Strukturfragen, sagte indes der Dresdner Bildungsforscher Prof. Wolfgang Melzer, sei falsch. Er unterbreitete den Abgeordneten den Vorschlag, bei Beibehaltung der Schulstruktur die Option auf Schulen zuzulassen, die ein längeres gemeinsames Lernen für alle, die das wünschen, gestatten. Auch er hob den Elternwillen hervor. Studien zufolge wünschten deutschlandweit Dreiviertel der Eltern, dass ihre Kinder länger zusammen lernen. Immer mehr Bundesländer mit unterschiedlicher politischer Konstellation öffneten sich in diese Richtung. In Europa gebe es die frühe Selektion neben Deutschland nur noch in Österreich, Belgien und Luxemburg.