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„Wir mauerten unser eigenes Grab“

15. Juli 1955: Beim größten Grubenunglück der Wismut starben 33 Bergleute bei einem Brand. 106 konnten gerettet werden. Auch Helmut Herzog.

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Von Gabi Thieme

Es ist nun schon so lange her. Aber ich träume fast jede zweite Nacht vom Schacht. – Der Mann, der das sagt, ist Helmut Herzog, 78 Jahre alt. Er macht auch kein Hehl daraus, dass er sich keine Filme über Bergwerksunglücke anschauen kann. Dabei spielte sich sein ganzes 40-jähriges Berufsleben unter Tage ab. Er drückt die kräftigen Hände fest aneinander, senkt den Blick, und seine kräftige Stimme scheint ein wenig zu beben, wenn er über die schlimmsten Stunden seines Lebens erzählt.

Ein Schwarzer Freitag

Herzog hatte im Mai 1955 in Schlema als Hauer angefangen„Es wurden ja überall Leute gesucht. Die Arbeit machte Spaß, und man bekam gutes Geld.“ Das sei überhaupt der Grund gewesen, sich gleich nach der Tischler-Lehre einen Job im Uranbergbau zu suchen. „Anfang Juli 1955 musste ich ins Krankenhaus. Ich hatte mir im Schacht den Ellenbogen aufgeschlagen. Die Wunde entzündete sich und wollte einfach nicht heilen. An einem Donnerstag, das war der 14. Juli, entließ mich der Arzt – aber nur auf mein Drängen und auf meine eigene Verantwortung. Ich meldete mich also freitags wieder zur Schicht. Später habe ich oft gedacht: Was warst du für ein Ochse! Hast nur das Geld im Kopf gehabt!“

Helmut Herzog war da gerade 23Jahre alt. Mit 20 Kumpeln gehörte er zur Hauer-Brigade von Fritz Ruderer. In drei Schichten mussten die Männer Überhaue für den Erzabbau in die Gangstrecke schlagen, reichlich 200 Meter unter der Erde. An jenem 15. Juli begann um 22Uhr die Nachtschicht. Die Männer fuhren über den Schacht 207 unweit des Niederschlemaer Bahnhofs ein. „Normalerweise kam um Mitternacht der Steiger und gegen 3 Uhr der Schießhauer mit dem Sprengstoff. Doch von beiden keine Spur. Auch die Lok mit den Hunten war nicht in Sicht. Wir haben geschimpft. Schließlich bedeutete Stillstand weniger Geld“, erinnert sich der Bergmann. „Dann bemerkten wir einen komischen Geruch. Wir dachten zunächst, der kommt von den Schweißgeräten. Schließlich zog feiner Qualm auf. Bald wurde daraus dicker Rauch. Wir versuchten, ihn mit unseren Luftschläuchen zu vertreiben. Vergeblich. Da nahmen wir den Pressluftschlauch des Baggers. Damit gelang es, den Rauch zumindest ein kleines Stück zurückzudrängen. Wir fühlten uns schon wie Helden“

Plötzlich herrschte Totenstille. Der Strom war ausgefallen, die Pressluft blieb weg, die Ventilatoren standen still. „Da sagte einer von uns: ,Das überstehen wir nicht!‘” Ein anderer versuchte, mit einem Stein Klopfzeichen zu geben. Aber uns hörte niemand, und wir hörten auch nichts. Da fiel mir ein Film ein, den ich einige Zeit zuvor gesehen hatte. Über ein Grubenunglück in Ungarn, wo Bergleute einen Wassereinbruch überlebten, weil sie sich unter Tage eingemauert hatten. Wir müssen uns einmauern, sagte ich. Und nach kurzem Zögern ging’s los. Wir mauerten so zusagen unser eigenes Grab.“

Holz gab es genug. Aus Pfosten wurde ein einfaches, Tür ähnliches Gestell gebaut. Darin schichteten die Männer Querpfosten übereinander, bis zur Decke hoch. Lehmziegel wurden zertreten und mit dem Schlamm vom Boden gemischt. „Den Ziegelbrei schmierten wir in alle Ritzen, bis unser Gang hermetisch abgeriegelt war.“ Kein Rauch drang durch diese „Tür“. Inzwischen war es Samstag gegen 9 Uhr.

Die Stimmung war bedrückender als alle Stunden zuvor. Die einen wurden immer stiller, andere hysterisch. Der Brigadier meinte, wenn uns in zwölf Stunden keiner rausgeholt hat, brechen wir die Wand durch und versuchen es auf eigene Faust. Aber das wäre unser Todesurteil gewesen.“

Stunden und weitere zwei Tage vergingen. Es war inzwischen Montag. Die Männer harrten ohne Essen und Trinken aus. Das Schlimmste sei der Durst gewesen. Eine Feldflasche voll Wasser hatte jeder bei Schichtbeginn bei sich. Nicht einen Tropfen gaben sie mehr her. Es war ein heißer Juli, vermutlich zeichnete sich deshalb kein einziges Rinnsal Wasser am Fels ab. Da vernahmen die Eingeschlossenen plötzlich Geräusche. Männer von den Rettungstrupps waren mit ihren Geräten offenbar an die Rohrleitungen im Gang gestoßen. „Geistesgegenwärtig klopften wir mit Steinen gegen die Rohre in unserer Grabkammer. Doch so schnell, wie wir gehofft hatten, lief die Rettungsaktion dann doch nicht ab. Sie sagten uns, wir sollen durchhalten. “

Kur und 1000 Mark Prämie

Dann strahlt sein Gesicht plötzlich, als er beschreibt, wie ein mit Notstrom betriebener Förderkorb die Männer nach 63 Stunden ans Tageslicht bringt. „Da standen fünf Liegen und Massen von Menschen, um uns zu empfangen. Die Ärzte hatten ihnen verboten, uns anzusprechen. Sie wussten ja nicht, in welchem Zustand wir waren. Uns war, als gingen wir zur eigenen Beerdigung.“ Das Spalier von Menschen habe sich bis zum Bergarbeiterkrankenhaus in Schneeberg gezogen, wo sie Männer eine Woche ärztlich betreut wurden. „Nach drei Tagen gab es Wahlessen. Ich habe Schnitzel bestellt. Auf die Frage der Schwester: Wie viel? habe ich alle zehn Finger hochgereckt.“ Dem Klinikaufenthalt folgten eine Kur für alle – und 1000 Mark Prämie.

Einige Bergleute kündigten nach dem Unglück. Herzog blieb – unter Tage, ab 1966 als Brigadier in Königstein. „Bereut habe ich es nicht. Es gab schwere Tage, aber mehr gute als schlechte Zeiten“, lautet sein Resümee. (Freie Presse)