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AdBlue-Stopp: Speditionen erleben ihr blaues Wunder

Weil die Stickstoffwerke in Piesteritz die Produktion eingestellt haben, fehlt der Diesel-Reiniger AdBlue. Das hat Folgen für die Transporteure und ihre Kunden.

Von Michael Rothe
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Der Preis für den "Dieselreiniger" AdBlue ist von 17 Cent pro Liter auf 1,45 Euro geklettert.
Der Preis für den "Dieselreiniger" AdBlue ist von 17 Cent pro Liter auf 1,45 Euro geklettert. © Thomas Kretschel

Was Experten schon vor Wochen befürchtet hatten, ist eingetreten: Die SKW Stickstoffwerke Piesteritz, Deutschlands größter Stickstoff- und Ammoniakhersteller, haben ihre Produktion eingestellt. Wegen drastisch gestiegener Energiepreise und der Gasumlage ab Oktober lohne sich die Produktion nicht mehr, heißt es vom Unternehmen. Damit kommt auch kein AdBlue mehr aus dem Werk – mit fatalen Folgen. Denn ohne jene Harnstofflösung fährt kein Diesel-Lkw.

Laut Unternehmensberater Lucas Fischer drohen „noch größere Lieferprobleme und im Ernstfall sogar ein totaler Zusammenbruch“. Schon zuvor hätten Personalmangel und hohe Spritkosten großen Schaden bei den gut 14.000 Speditionen in Deutschland angerichtet.

Der Mangel an AdBlue könne nun für viele Betriebe „der letzte Tropfen vor der Insolvenz“ sein, warnt der auf Speditionen spezialisierte Chef von Media-Recruiting in Gera. Alle Euro-6-Fahrzeuge könnten ohne AdBlue nicht mehr fahren. „Es ist technisch nicht möglich, und es wäre außerdem Steuerhinterziehung“, sagt Fischer zur SZ. Er stehe täglich in Kontakt mit verzweifelten Chefs, die ihm neue Hiobsbotschaften mitteilten.

Flüssiggas wäre eine Lösung, ist aber zu teuer

Andreas Hanitzsch, Geschäftsführer und Inhaber einer Spedition in Wilsdruff bei Dresden, bestätigt den Ernst der Lage. „Ohne AdBlue geht es nicht, es gibt keinen Weg daneben“, sagt er. Die Lösung werde gebraucht, um vorgeschriebene Abgaswerte zu erreichen, ohne sie drohten Leistungsreduktion und Stillstand.

Der gut 100 Jahre alte Familienbetrieb hat rund 200 Mitarbeitende und ist mit etwa 100 schweren Lkw deutschlandweit und in Europa unterwegs. „Flüssiggas wäre eine Lösung, dann brauchten wir kein AdBlue“, sagt Hanitzsch. Aber statt der 2019 kalkulierten 70 Cent koste das Kilo LNG mittlerweile 5,15 Euro, und ganze Lkw-Züge stünden auf den Höfen. Ähnlich sei der Preissprung bei AdBlue: von 17 Cent pro Liter auf 1,45 Euro. Hanitzsch hat „zum Glück mehrere Bezugskanäle“. Die Versorgung sei „noch möglich, es wird nur deutlich teurer“.

Der Familienbetrieb von Andreas Hanitzsch in Wilsdruff bei Dresden hat rund 200 Mitarbeitende und ist mit etwa 100 schweren Lkw deutschlandweit und in Europa unterwegs.
Der Familienbetrieb von Andreas Hanitzsch in Wilsdruff bei Dresden hat rund 200 Mitarbeitende und ist mit etwa 100 schweren Lkw deutschlandweit und in Europa unterwegs. © Spedition Hanitzsch

AdBlue wird aus Harnstoff hergestellt, der in Dünger, Kunststoff und Kosmetik eingesetzt wird. Nach Angaben des Verbands der Automobilindustrie verringert die wässrige Lösung bei der Abgasnachbehandlung von Dieselmotoren die ausgestoßenen Stickoxide um bis zu 80 Prozent.

„Für uns lohnt es sich derzeit nicht, zu produzieren“, sagt SKW-Sprecher Christopher Profitlich. Das Unternehmen müsse ab Oktober monatlich 35 Millionen Euro an Gasumlagen bezahlen. Das sei mehr als es im Jahr an Gewinn erwirtschafte und finanziell nicht mehr zu stemmen. „Der AdBlue-Markt trocknet aus“, warnt der Sprecher. Auch die anderen Produzenten in Deutschland – BASF in Ludwigshafen und das Werk des norwegischen Yara-Konterns in Brunsbüttel, hätten ihre Produktion bereits gedrosselt. Weil die Probleme europaweit ähnlich wären, sei kein Import möglich.

„Zwei Drittel aller Transporte finden auf der Straße statt, die letzte Meile immer per Lkw“, beschreibt Profitlich die Dimension des Problems für Dieselnutzer. „Und da reden wird noch nicht von Privatfahrern, öffentlichem Nahverkehr, Landwirtschaft, Technischem Hilfswerk, Polizei.“

SKW zu 100 Prozent in tschechischer Hand

Die Tradition des Chemiestandorts Piesteritz, Ortsteil der Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt, reicht zurück bis 1915. Zu DDR-Zeiten war das Werk als VEB Sticksoffwerk Piesteritz und ab 1979 als Leitbetrieb des Kombinats Agrochemie bekannt. Nach der Wende zunächst Tochter der oberbayerischen Trostberg AG ist das Unternehmen seit 2006 eine hundertprozentige Tochter von Agrofert in Prag.

Der Mischkonzern, Tschechiens drittgrößtes Unternehmen, war 1993 von Ex-Ministerpräsident und Milliardär Andrej Babiš gegründet worden. Agrofert Deutschland betreibt in Bischofswerda ein Lager für Getreide und Flüssigdünger sowie in Reichenbach bei Görlitz eine Düngermischanlage.

Die Stickstoffwerke in Piesteritz müssen ab Oktober monatlich 35 Millionen Euro Gasumlage bezahlen - mehr als Deutschlands größter Stickstoff- und Ammoniakhersteller im Jahr an Gewinn erwirtschaftet.
Die Stickstoffwerke in Piesteritz müssen ab Oktober monatlich 35 Millionen Euro Gasumlage bezahlen - mehr als Deutschlands größter Stickstoff- und Ammoniakhersteller im Jahr an Gewinn erwirtschaftet. © dpa

Schon 2021 hatte SKW seine gasintensive Produktion gedrosselt. Trotz des Produktionsstopps und um die 860 Beschäftigten zu halten, habe das Unternehmen sie weiter voll bezahlt, sagt Sprecher Profitlich. Noch seien die Leute nicht in Kurzarbeit, „aber der 1. Oktober und die Gasumlage sind nicht mehr weit“. Die Stickstoffwerke hatten 2021 860 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet, nach 503 Millionen Euro zuvor. Wegen drastisch gestiegener Rohstoffkosten war der Jahresüberschuss aber von 52 auf 1,8 Millionen Euro eingebrochen.

"Praxisferne Politik fasst folgenschwere Beschlüsse"

Vorige Woche hatte sich Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Sven Schulze (CDU) vor Ort informiert. Das Unternehmen habe der Bundesregierung ein Angebot gemacht, sagt Sprecher Profitlich. Wenn erkennbar sei, dass sie das Problem mit der Gasumlage angehe, sei SKW „bereit, in Vorleistung zu gehen und notfalls zunächst mit Verlusten zu produzieren“.

„Bei einem Verbrauch von drei Litern AdBlue auf 100 Kilometer kann man sich die Mehrkosten ausrechnen“, sagt Wieland Richter, Chef gleichnamiger Verkehrsbetrieb GmbH in Großenhain mit 25 Beschäftigten und 15 Lkw. Als Präsident des Landesverbands des sächsischen Verkehrsgewerbes ist er Sprachrohr von rund 300 Unternehmen. „Keiner hat mehr Reserven“, klagt Richter. Die Lage sei „schlimmer als durch Corona“, es gebe keine Planungssicherheit. Aus seiner Sicht „treffen praxisferne Politiker mit überhöhten westlichen Moralvorstellungen folgenschwere Entscheidungen“. Natürlich müssten die Transporteure ihre Mehrkosten an die Kunden weitergeben, warnt der Verbandspräsident – „oder es wird Lieferengpässe geben“.