Der mobile Ausbilder

Fasern bauen sich aus aneinander- liegenden und miteinander verknäulten Makromolekülen auf. Die wiederum sind in Ketten angeordnet, weshalb man sie auch Kettenmoleküle oder Polymere nennt. Das muss der Laie nicht wissen, der Textilarbeiter aber schon. Denn Stoff ist nicht Stoff, jedes Material hat eigene Besonderheiten, lässt sich leichter oder schwieriger verarbeiten. Und auch die Arbeitsprozesse in der Textilindustrie sind je nach Auftragsart und -volumen unterschiedlich. Das alles lernt man klassischerweise während einer Ausbildung oder eines Studiums. Doch immer mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Textilindustrie sind Seiteneinsteiger. Für sie kann es schwierig sein, das komplexe Wissen rund um Material, Verarbeitung und Vermarktung aufzuholen. An der TU Chemnitz hat man dieses Problem nicht nur erkannt, sondern auch eine Lösung gefunden.
Eine E-Learning-Plattform soll es neuen Beschäftigten in Textilunternehmen leichter machen, Wissenslücken zu schließen und Kompetenzen auszubauen.Entwickelt an der Professur Textile Technologien bietet der „textil trainer“ kostenlos Onlinekurse, in denen die Teilnehmer nicht nur lernen, was Polymere sind, sondern zum Beispiel auch erfahren, dass allein 2018 weltweit mehr als 111 Millionen Tonnen Fasern produziert wurden – das macht 14 Kilo pro Kopf.Auch zum Thema Recycling und Nachhaltigkeit, zu den sogenannten Technischen Textilien und Veredlungsmöglichkeiten gibt es beim „textil trainer“ anschaulich aufbereitete Informationen. Ein Quiz am Ende fragt das frisch erworbene Wissen ab.Lernen, wann und wo die Teilnehmer es möchten – das ist ein großes Plus des neuen Angebotes. Das zweite ist die Tatsache, dass auch die Unternehmen selbst ganz unmittelbar profitieren, denn der Online-Trainer ist nicht nur für Quereinsteiger gedacht. Firmen können hier gezielt Mitarbeiter weiterqualifizieren und Berufsanfängern die ersten Schritte in eine durchaus komplexe Materie erleichtern. Die Inhalte orientieren sich an den Lehrplaninhalten des ersten Ausbildungsjahres an den Berufsschulen und schaffen dadurch fundiertes Basiswissen.
Mit Praxispartnern erprobt
Die Macher hinter dem Projekt sind sich sicher, dass der Bedarf hoch ist – und weiter steigen wird. Auch, weil vor allem kleinere Unternehmen oft nicht die Kapazitäten haben, umfangreiche Weiterbildungsangebote anzubieten. „Darunter leidet die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen“, sagt Anna Lanfermann, die das Projekt an der TU Chemnitz leitet. Außerdem sei es für viele Unternehmen schwierig, Mitarbeiter zu mehrtägigen Kursen außer Haus zu schicken – sie werden schlicht in der laufenden Produktion gebraucht. All das sei ausschlaggebend für die Entwicklung der E-Learning-Plattform gewesen. Erstellt wurden die Onlinekurse in Zusammenarbeit mit der chemmedia AG und vorrangig mit Textilbetrieben aus der Region. Die Praxistauglichkeit der vermittelten Inhalte ist somit sichergestellt. Damit das Angebot noch bekannter wird, schickt die TU Chemnitz Poster, Flyer und Info-Postkarten an Textilbetriebe – zuletzt im Großraum Dresden, Bautzen und Görlitz sowie in Leipzig und Nordsachsen. Dort und in Ostsachsen gibt es gleich mehrere Regionen, die einst stark von der Textilindustrie geprägt waren. Bis heute sind etwa im Oberland oder im Rödertal Textilhersteller mit reichlich Expertise ansässig. Auch viele von ihnen stehen vor der Frage, wie sie perspektivisch guten Nachwuchs finden und qualifizieren können. Der textil trainer kann und will ihnen einen großen Teil dieser Sorgen nehmen.Das erste Feedback gibt den Machern hinter dem Projekt recht.
Für die Aufbereitung des Wissens in überschaubaren und leicht verständlichen Modulen, die nach dem Motto „mobile first“ auch bequem am Handy absolviert werden können, habe es schon viel Lob von Teilnehmern und Firmen gegeben, so Anna Lanfermann. „Der textil trainer unterstützt uns im Unternehmen, sowohl Auszubildende als auch Seiteneinsteiger und Seiteneinsteigerinnen themenspezifisch vorzubereiten“, sagt etwa Axel Vater, Ausbilder bei der Norafin Industries (Germany) GmbH aus Mildenau, und nennt zwei Beispiele. So habe ihm die Plattform ermöglicht, ausgefallene Berufsschultage in der Pandemiezeit zu nutzen, um mit den Azubis verschiedene Themen der Faserstofflehre zu erarbeiten. „Positiv ist auch, dass die Zertifikate am Kursende zugleich eine Erfolgskontrolle sowie ein Nachweis für das Ausbildungsheft darstellen.“ Zurzeit habe das Unternehmen zwei Mitarbeiter, die mit dem textil trainer auf ihre neuen Tätigkeiten im Bereich Veredeln und Ausrüsten vorbereitet werden.
Viel positives Feedback
Auch die Textilausrüstung Pfand GmbH aus Lengenfeld mag den Online-Trainer nicht mehr missen. Der geschäftsführende Gesellschafter Prof. Dr.-Ing. Holger Erth lobt sowohl das „leicht verständliche und informative Instrument zur Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch von Auszubildenden“ als auch das Engagement der Entwickler.Ein Fragebogen zum Abschluss jedes Kurses und die Kommentarfunktion auf der Plattform machen die Kommunikation leicht. Und es gibt auch schon Wünsche für die Zukunft, etwa nach zusammenhängenden Qualifizierungsangeboten und Zertifizierungsmöglichkeiten und hier und da auch noch zu weiteren Inhalten. Das Team hinter dem Trainer prüft die Ideen und kümmert sich – wenn möglich und im Kontext sinnvoll – um eine schnelle Umsetzung. So sind die gewünschten zusammenhängenden Kurse zu bestimmten Themenbereichen bereits in Arbeit.
Das Projekt an der TU läuft erst einmal bis 2022. Weil Resonanz und Interesse so groß sind, suchen Anna Lanfermann und ihre Kolleginnen und Kollegen schon jetzt nach Möglichkeiten, die Zukunft des Online-Trainers gemeinsam mit Partnern zu sichern. Gebraucht wird das mobile Klassenzimmer für Textilarbeiter in Sachsen auf jeden Fall.