SZ + Wirtschaft
Merken

Aktuelle Nebenkosten-Abschläge decken reale Preise nicht

Die Energiepreise explodieren, das weiß inzwischen jeder. Doch wer legt wirklich tausende Euro für Nachzahlungen zurück? Über ein Problem, das die Regierung nicht eingestehen will.

 9 Min.
Teilen
Folgen
© Jan Woitas/dpa (Symbolbild)

Von Jakob Schlandt

Angesichts dringend notwendiger Einsparungen beim Gasverbrauch privater Haushalte wird derzeit öffentlich viel über Preisanreize diskutiert. Unter Ökonomen herrscht weitgehend Einigkeit: Sie müssen möglichst kräftig ausfallen und die Knappheit widerspiegeln, damit ausreichend gespart wird. Und auch die Bundesregierung lässt derzeit nicht erkennen, an den stark steigenden Preisen für private Verbraucher und Unternehmen etwas ändern zu wollen.

Mit der Umlage nach Paragraph 26 des Energiesicherheitsgesetzes hat sie entschieden, die Importunternehmen rechnerisch ab Oktober über Zahlungen durch die Gasverbraucher zu stabilisieren statt wie bis dahin durch direkte staatliche Stützungsmaßnahmen.

Die Umlage wird erst im November oder Dezember auf den Gasrechnungen auftauchen, hinzu kommen dann noch weitere Umlagesteigerungen. Auch die hohen Marktpreise sind noch nicht voll durchgeschlagen. Aber direkte Gasabnehmer bekommen sie immer stärker zu spüren.

Die Probleme der direkt belieferten Privatkunden

In der Gas-Grundversorgung müssen einer aktuellen Auswertung des Preisvergleichsportals Check24 zufolge nun im mengengewichteten deutschen Schnitt gut 14 Cent pro Kilowattstunde bezahlt werden. In vielen Regionen ist die Grundversorgung derzeit der günstigste Tarif.

Bei den bundesweiten Alternativen, den sogenannten Sondertarifen, sind um die 25 Cent pro Kilowattstunde fällig. In der Grundversorgung gehen die Preiserhöhungen zudem stetig weiter.

Im Winter dürfte ein Großteil der direkt belieferten privaten Gaskunden also mit Preisen vermutlich in Richtung oder jenseits der 20-Cent-Marke konfrontiert sein. Diese direkte Lieferung – zum Beispiel für Haus- und Wohnungseigentümer oder bei selbst bewirtschafteter Gasetagenheizung in der Mietwohnung – führt auch sofort zu entsprechend erhöhten Abschlagszahlungen. Der Anreiz zum Sparen ist also für diese Kundengruppe meist schon markant und steigt weiter an.

Was ist mit den Mieterinnen und Mietern?

Beinahe völlig aus dem Blick geraten ist in der Debatte allerdings eine andere Gruppe: Mieterinnen und Mieter, deren Heizkosten über die Nebenkosten abgerechnet werden. Nach Gesetzeslage – entscheidend sind hier die Paragraphen 556 und 556a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sowie in den Details die Heizkostenverordnung – wird erst im Laufe des Folgejahres über Heizkostensteigerungen abgerechnet – und auch dann dürfen die Abschläge entsprechend erhöht werden.

Frühere Anpassungen sind nur bei Freiwilligkeit beider Seiten möglich. Der Vermieter muss es wollen und anbieten, der Mieter dazu bereit sein. Die derzeitigen Nachzahlungen und Abschlagserhöhungen, die auch in den Medien die Runde machen, basieren in aller Regel auf den noch moderaten Gaspreissteigerungen im Jahr 2021.

Aufmerksame Mieter müssten die Lage zwar verfolgen und zum Beispiel Rückstellungen bilden, dazu raten die Verbraucherzentralen auch. Aber: Vielen dürfte die enorme Kostenwelle und damit auch die Frage, wie stark sich sparsames Heizen lohnt, nicht voll bewusst sein, bis sehr verspätet die Rechnung kommt.

Wie viele Kunden betrifft das?

Wie groß ist die Gruppe der Nebenkostenheizer mit Gas? Deutlich größer, als vielen wohl bekannt ist. Ganz genaue Zahlen werden zwar nicht erfasst, weder zum Beispiel vom Statistischen Bundesamt noch von der Bundesnetzagentur.

Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) allerdings teilte auf Background-Anfrage seine Schätzung mit: Demnach „haben rund zehn Millionen Haushalte einen direkten Versorgungsvertrag mit ihrem Gaslieferanten. Insgesamt rund 20 Millionen Wohneinheiten nutzen Erdgas für die Wärmeversorgung“. Im Umkehrschluss kann also davon ausgegangen werden, dass die Hälfte der Gasverbraucher die Rechnung über die Nebenkosten bezahlt.

Ähnlich schätzt die Arbeitsgemeinschaft Heiz- und Wasserkostenverteilung (Arge Heiwako) die Lage ein. Hauptgeschäftsführer Christian Sperber sagte Tagesspiegel Background, von den knapp 43 Millionen Haushalten in Deutschland würde in 20 Millionen für die Kalkulation der Nebenkosten gemessen und entsprechend abgerechnet. Da fast genau die Hälfte der deutschen Haushalte mit Gas heizt, sei plausibel in etwa von einer 50/50-Aufteilung auszugehen, bestätigte Sperber die BDEW-Einschätzung.

Wirtschaftsweise spricht von fataler Lage

Rund die Hälfte der Gashaushalte fällt also bei der bisherigen Preisanreizdebatte weitgehend durchs Raster. Veronika Grimm, Professorin an der Uni Erlangen-Nürnberg und „Wirtschaftsweise“, ist alarmiert und fordert ein entschlossenes und sofortiges Eingreifen der Politik. „Viele Mieter*innen zahlen für die Heizkosten im Jahr 2022 Abschläge, die auf der Abrechnung für das Vorjahr 2021 basieren und sich somit als deutlich zu niedrig herausstellen werden.“

Bis dies den Nebenkosten-Zahlern mit Sicherheit klar werde, sei der Winter vorbei. „Es ist fatal, dass die Verbraucher dadurch überhaupt keinen sichtbaren Anreiz zum Gassparen haben, aber ex post – bei der Abrechnung, die im Jahr 2023 stattfinden wird – von den hohen Kosten kalt erwischt werden“, sagte Grimm, sagte Grimm Tagesspiegel Background. Zugleich würden die Vermieter „in Liquiditätsprobleme laufen“, denn die hohen Bezugskosten fielen an, aber die aktuellen Abschläge reflektieren diese in keiner Weise.

Aus Sicht von Grimm muss die Politik sofort einschreiten. „Hier besteht dringender Handlungsbedarf“, sagte sie. Zunächst solle man die Mieter über die Situation regelmäßig informieren und ihnen auch Informationen bereitstellen, wie man Gas einsparen kann. Bei vielen werde der individuelle Gasverbrauch abgelesen und abgerechnet, man könnte also auch bei Mietern mit Prämien für umfangreiche Einsparungen arbeiten.

Man solle aber auch ermöglichen, die Abschläge „zeitnah an das aktuelle Preisniveau anzupassen“, so komme das Signal zum Gassparen schon jetzt bei den Mietern an. „Im Gegenzug müssen diejenigen, die diese Härten nicht selbst tragen können, vorausschauend entlastet werden. Ein Versprechen der Entlastung reicht hier nicht“, bemängelte die Sachverständige zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.