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Sachsens Gastgewerbe ruft nach ausländischen Arbeitskräften

Im Corona-Lockdown kehrten Tausende der Branche den Rücken. Nun sollen Vietnamesen und Ukrainer einspringen – und die Jobs attraktiver werden.

Von Michael Rothe
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Die Pandemie hat die Personalnot im Gastgewerbe dramatisch verschärft. Zehntausende sind in besser bezahlte Jobs mit geregelter Arbeitszeit abgewandert.
Die Pandemie hat die Personalnot im Gastgewerbe dramatisch verschärft. Zehntausende sind in besser bezahlte Jobs mit geregelter Arbeitszeit abgewandert. © dpa/Jens Büttner

"Alles richtig gemacht", sagt Maika Neumann. Die 39-Jährige war bis zum Pandemiesommer 2020 Leiterin eines Restaurants in der Oberlausitz. Dann hatte die alleinerziehende Mutter von vier Teenagern genug vom Job mit 60-Stunden-Woche, Nachtarbeit, überschaubarer Bezahlung. Seit zwei Jahren stellt sie nun Briefe und Päckchen in Oderwitz und Bernstadt zu – und hat es noch keine Minute bereut. Statt unregelmäßiger Arbeitszeit sei ihr Tagwerk nun getaktet: "Ich stehe um 6.30 Uhr auf, habe um acht Dienstbeginn und bin in der Regel um 16 Uhr wieder daheim", sagt die Frau, die bereitwillig von ihrem vorherigen Berufsleben erzählt.

Sie sei nicht im Groll gewechselt, blickt die Abtrünnige zurück. Im Gegenteil: Noch immer helfe sie ab und zu im früheren Betrieb aus, sagt Maika Neumann. Letztlich sei vor allem die psychische Belastung zu groß gewesen. Die Kunden seien immer unzufriedener und unhöflicher geworden, "haben uns behandelt wie Dreck", klagt sie. Früher habe man vom Trinkgeld leben können, heute sei dieses Extra "ein Witz".

Wie Maika Neumann haben rund 64.000 Beschäftigte dem Gastgewerbe nach Kurzarbeit und Lockdowns in der Pandemie den Rücken gekehrt und sind in besser bezahlte Jobs im Einzelhandel, in der Logistik und im öffentlichen Dienst gewechselt. In der Spitze betrug der Verlust im Mai 2021 sogar über 160.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Auch wenn es langsam aufwärtsgeht, fehlt ausgerechnet in der umsatzträchtigen Sommersaison massenhaft Personal, müssen auch im Freistaat Betriebe teilweise Zwangsruhetage einlegen, weil sie keine Leute haben.

Allein in Sachsen fehlen 3.000 Kellner und Köche

Nach Angaben der Landesarbeitsagentur zählt Sachsens Gastgewerbe gut 7.200 Hotels und Restaurants mit rund 66.600 Beschäftigten, etwa 3.500 weniger als Ende März 2021. Im vergangenen Jahr war der Negativsaldo sogar mehr als doppelt so groß gewesen. Die Agentur beziffert die Zahl der offenen Stellen für Fach- und Hilfskräfte mit etwa 1.000. Weil nicht jedes Unternehmen seine freien Jobs melden würde, sei der Bedarf an Kellnern, Köchen und Zimmermädchen aber "drei Mal so hoch", sagt Axel Klein, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands Dehoga Sachsen.

Florian Leisentritt, Hoteldirektor im Gewandhaus Dresden und Manager Markus Leike (v.l.) sehen sich in ihren Bestelllisten auch mit bis 50 Prozent gestiegen Einkaufspreisen für Lebensmittel konfrontiert.
Florian Leisentritt, Hoteldirektor im Gewandhaus Dresden und Manager Markus Leike (v.l.) sehen sich in ihren Bestelllisten auch mit bis 50 Prozent gestiegen Einkaufspreisen für Lebensmittel konfrontiert. © kairospress

Der Verbandschef will die Personallücke neben verstärkter Nachwuchswerbung in Schulen auch "mit Flüchtlingen aus der Ukraine sowie Arbeitskräften aus Vietnam, Mexiko, Uganda und anderen Drittstaaten" schließen. Er fordert einen Abbau der bürokratischen und finanziellen Hürden bei der Zuwanderung. Tatsächlich plant die Bundesregierung nach der Sonderregelung für das Flughafenpersonal auch für das Gastgewerbe einen vereinfachten Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland.

Auch die Gewerkschaft NGG sieht in den Ausländern eine Chance. Gerade das Gastgewerbe sei weltoffen, die Branche ideal für einen Quereinstieg, sagt Thomas Lißner, Gewerkschaftssekretär für Dresden-Chemnitz. Da hätten auch Ungelernte gute Chancen. Feste stehe aber: "Fehlendes Personal ist nur mit besseren Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen zu bekommen."

Wie groß der Handlungs- und Nachholbedarf war, zeigt der jüngste Tarifabschluss. Seit 1. April erhalten Tarifbeschäftigte statt 10,01 Euro mindestens 11,23 Euro pro Stunde. Bis Ende kommenden Jahres sollen die Löhne in der untersten Lohngruppe in vier Stufen um fast 30 Prozent steigen. Doch schon der nächste Erhöhungsschritt am 1. Oktober liegt nur 24 Cent über dem dann geltenden gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro. Fachkräfte erhalten gut 60 Cent mehr. Azubis bekommen seit April 60 Euro obendrauf, hinken mit 900 Euro im 1. Lehrjahr ab August anderen Branchen aber weiter hinterher. Da viele Dehoga-Betriebe eine "OT-Mitgliedschaft" haben, sind laut NGG-Mann Lißner "kaum zehn Prozent der Unternehmen" im Freistaat tarifgebunden.

Größter Einbruch in der Nachkriegszeit

Nach zehn Wachstumsjahren erlitt das Gastgewerbe in der Pandemie den größten wirtschaftlichen Einbruch in der Nachkriegszeit. Der Verband spricht in den vergangenen beiden Jahren von Umsatzeinbußen von rund 40 Prozent gegenüber dem Vor-Coronajahr 2019. Auch im laufenden Jahr hielten die Verluste an, heiß es. Dank umfangreicher Staatshilfen habe es zwar nur wenige Pleiten aber zahlreiche Geschäftsaufgabe gegeben.

Stühle, Tische und Sonnenschirme auf dem Dresdner Neumarkt: Nach zehn Wachstumsjahren erlitt das Gastgewerbe in der Pandemie den größten wirtschaftlichen Einbruch in der Nachkriegszeit.
Stühle, Tische und Sonnenschirme auf dem Dresdner Neumarkt: Nach zehn Wachstumsjahren erlitt das Gastgewerbe in der Pandemie den größten wirtschaftlichen Einbruch in der Nachkriegszeit. © dpa/Robert Michael

Die Erholung werde noch Jahre dauern, befürchtet Sachsens Dehoga-Präsident Axel Hüpkes. Er appelliert an die Landesregierung, bei künftigen Pandemiewellen auf Komplettschließung der Betriebe zu verzichten. Die Branche brauche "gewisse Normalität, nicht nur im Sommer", sagt er. Daher müsse sich der Freistaat beim Bund für eine Beibehaltung des Mehrwertsteuersatzes von sieben statt 19 Prozent einsetzen. Schließlich müssten die Betriebe neben Personalnot auch steigende Lohnkosten sowie explodierende Preise für Lebensmittel und Energie verkraften. 85 Prozent der Unternehmen haben so laut Umfragen Existenzsorgen, fast jedes sechste befürchtet gar eine Insolvenz.

Andreas Saller, Chef des Gasthauses 1470 in Zwickau, räumt Fehler der Branche ein. Personalmangel gebe es schon seit über 20 Jahren, Corona habe die Entwicklung nur forciert. "An den Löhnen müssen wir arbeiten", sagt er – und an attraktiveren Arbeitszeiten und -bedingungen.

Für Maika Neumann kommt diese Einsicht zu spät. "Alles richtig gemacht", sagen ihre vier Kinder. Seit vergangenem Freitag ist ihre Mutter als Zustellerin bei Deutsche Post DHL Group unbefristet eingestellt, hat Spaß im Job und mehr Zeit für sie.