Gerüst der Gesellschaft

Der Duden kennt gut 30 Worte, die mit „Gemein“ beginnen: gemeingefährlich, gemeinsam, Gemeinschaftsantenne, ... Im Grunde müsste dort auch Gemeinhardt auftauchen, doch die Rechtschreibbibel führt nur berühmte oder gängige Namen. Und nach einschlägigen Quellen schafft es dieser nur auf Platz 7.098.
So selten ihr Firmenname, so außergewöhnlich sind die Chefs jenes Gerüstbaubetriebs in Roßwein bei Döbeln. Denn für Walter Stuber und Dirk Eckart steht das Ende jener Dudenreihung ganz vorn: Gemeinwohl. „Ich habe Kinder und Enkel, aber was hinterlassen wir ihnen“, fragt sich der 60-jährige Stuber. Die Menschheit habe in nur 100 Jahren ihre Rohstoffe halbiert. „Wir haben keine zweite Welt“, mahnt der Schwabe. Beim Unternehmerkongress „Sinn macht Gewinn“ habe er vor zwei Jahren den Österreicher Christian Felber kennengelernt, den Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie. Eine schicksalhafte Begegnung.
„Müssen wir immer neuer, größer, besser, mehr?“, wird auf der Website der 2010 gestarteten Bewegung rhetorisch gefragt. „Von zehn Menschen in Deutschland wünschen sich acht ein neues Wirtschaftssystem“, heißt es im Erklärvideo. Die Wirtschaft sei „auf grenzenloses Wachstum ausgelegt“. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssten Unternehmen billig produzieren, oft mit Umweltbelastung und Ausbeutung. Die Kosten zur Umweltsanierung wälzten sie dann auf die Gesellschaft ab. Dieses System unterstütze eher Gier und Rücksichtslosigkeit, als das Streben nach Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Rücksichtslosigkeit sollte benachteiligt, ethisches Handeln jedoch belohnt werden, so die Forderung.
Bestnote in drei Kategorien
Als weltweit erster Gerüstbauer hat sich die Gemeinhardt Service GmbH 2020 nach Gemeinwohl-Werten bilanzieren lassen. Überprüft wurden Aktivitäten in 20 Bereichen: unter anderem Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung, Transparenz, ökologische Nachhaltigkeit. „Und das hat nichts mit Kommunismus zu tun“, betont Stuber, seit vergangenen Sommer auch Präsident des Rotary-Clubs Döbeln-Mittelsachsen. Der Bewertungsmaßstab reiche in fünf Stufen von „Basislinie“ bis „vorbildlich“.
Die Roßweiner erhielten gleich in drei Kategorien die Bestnote: soziale Haltung im Umgang mit Geld, Menschenwürde am Arbeitsplatz, ethische Kundenbeziehungen. Besonders gelobt werden das ganzheitliche Qualitätsmanagementsystem EFQM, die Mitwirkung der Beschäftigten über die firmeneigene App, überdurchschnittlich lange Betriebszugehörigkeit, viele Initiativbewerbungen, Gesundheitsangebote für Mitarbeitende, das mutmachende Engagement der Chefs mit einer eigenen Buchreihe, das partnerschaftliche Denken und der direkte Draht zu Kunden.
Bei der Einbindung der Beschäftigten in Entscheidungen gebe es mit 60 von 100 Punkten hingegen noch Reserven, ist der Firmenchef selbstkritisch. Er räumt ein, früher ein Tyrann gewesen zu sein, der Leute entlassen konnte, nur, weil sie ihm mal widersprachen. Auch seine Gehbehinderung habe ihn geerdet, sagt er und gibt freimütig zu: „Ich bin nicht schwindelfrei.“ Und das als Chef eines Gerüstbaubetriebs.
„Das beste Gerüst für den besonderen Zweck mit den tollsten Mitarbeitern“ – das ist seit Jahren das Motto des Führungsduos. „Und genau diese Mitarbeiter wollen wir fördern und möglichst bis zu deren Rente, die sie gesund antreten sollen, im Unternehmen behalten“, schreibt es in seine Bewerbung zu „Sachsens Unternehmer des Jahres“. Für den wichtigen Wirtschaftspreis im Freistaat sind Stuber und Eckart 2021 bereits zum zweiten Mal nominiert.
Gerüste werden von oben nach unten gebaut
Sie sind Schulterklopfen gewohnt und wegen ihrer schrägen Ideen medial präsent: sei es mit einer Protest-Kutschfahrt gegen Dieselfahrverbote durch Frankfurt am Main, Stellenanzeigen auf 12.000 Pizzakartons oder Werbespots in West-Kinos, mit denen sie ausgewanderte Sachsen in die Heimat zurückholen wollen.
Wer sich ihren geschäftlichen Projekten nähert, staunt. Das Unternehmen baut Gerüste auch von oben nach unten – dort, wo die meisten der 3.000 Konkurrenten in Deutschland kapitulieren. So an der Talsperre Sosa, an der Trinkwasser-Talsperre Lehnmühle in Hartmannsdorf bei Dippoldiswalde, an den Unterbögen der Dresdner Albertbrücke. Zum Kundenkreis gehören Industriebetriebe, öffentliche Auftraggeber und Baufirmen.
Die Wurzeln der Firma liegen in einem 115 Jahre alten Münchner Familienbetrieb. Dessen 1994 gegründete Niederlassung in Roßwein hatten Stuber und sein einstiger Kolonnenführer Eckart (54), ein Sachse, 2001 gekauft. Drei Mitgesellschafter waren später ausgestiegen. Mittlerweile hat die Firma in Roßwein, Braunschweig, Frankfurt am Main und neuerdings Nürnberg rund 50 Mitarbeiter, die im Corona-Jahr und ohne Staatshilfen wieder rund vier Millionen Euro Umsatz erwirtschafteten.
Soziales Engagement ist wichtig
Ihre Chefs nennen sich selbst „verrückte Unternehmer“ – auch wegen ausgefallener Konzepte wie dem Wunschlohn für Mitarbeiter mit zwei Zusatzprojekten, Weihnachtskarten im Sommer, Zuschuss für Kita- oder Hortplatz, betriebliche Altersvorsorge, Nichtraucher- und Nicht-krank-Bonus. Die Fahrzeit zur und von der Baustelle bezahlen sie ihren Leuten – alles andere als selbstverständlich. Die acht Azubis werden in einer eigenen Lehrlingskolonne gefördert.
Dafür vergeben Mitarbeiter bei der Onlineplattform Kununu 4,4 von 5 Sternen – eine Bewertung, von der andere Arbeitgeber träumen. „Mit dem Unternehmen langfristig Sinn stiften.“ Das ist das Credo der Gemeinhardt-Chefs, die sich auch sozial engagieren: vom Kinderheim über die Förderschule bis zum örtlichen Sportverein.
Laut Dirk Scheffler, im GemeinwohlVerein verantwortlich für Leipzig und Umland, hat die Bewegung in Sachsen „mit 70 bis 80 Mitgliedern noch Luft nach oben“. Rund ein Viertel der Vereinsmitglieder seien kleine und mittlere Unternehmen oder Einzelkämpfer. Die Regionalgruppe für den Großraum Dresden mit rund 30 Mitgliedern und Sympathisanten sei eine von insgesamt gut 150.
Im Freistaat hat sich außer den Gerüstbauern nur Teilauto Leipzig nach Gemeinwohl zertifizieren lassen. Weitere zehn Unternehmen hätten es vor, sagt Scheffler. So eine Bilanz könnten gerade kleine Betriebe auch in einer „Peergruppe“ diskutieren, so voneinander lernen und neben Erfahrungen auch die Kosten teilen.
Um am Gerüst einer Gesellschaft mitzubauen, muss man nicht vom Fach sein wie Walter Stuber und Dirk Eckart. Der dritte und letzte Teil ihrer Buchreihe heißt „Mutmacher aus dem Leben“. Die beiden Vorzeigeunternehmer sind auch in Sachen Gemeinwohl Exoten. Noch.
Die Initiative
- Die Gemeinwohl-Ökonomie meint ethische Konzepte und alternative Wirtschaftsmodelle, die auf Gemeinwohl fördernde Werte setzen.
- Sie sieht sich als Veränderungshebel auf wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene.
- Die Initiative basiert auf Ideen des österreichischen Publizisten Christian Felber und startete 2010 mit einem Verein in Wien.
- Sie umfasst mittlerweile weltweit rund 11.000 Unterstützerinnen und Unterstützer, gut 4.000 Aktive in über 150 Regionalgruppen, 500 bilanzierte Firmen, etwa 60 Kommunen und 200 Hochschulen.
- Kontakt: [email protected]
Wirtschaft in Sachen
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