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In Deutschland fehlen Zehntausende Lkw-Fahrer

„Der Job macht viel kaputt“, sagt Fernfahrer Tomasz Stremlau. Er arbeitet bis zu 15 Stunden am Tag. Transportunternehmer warnen vor gerissenen Lieferketten und leeren Regalen.

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Knapp drei Viertel des gesamten Güterverkehrs in Deutschland werden von Lkws umgeschlagen. Doch die Zahl der Berufsfahrer sinkt seit Jahren, nur 2,6 Prozent sind jünger als 25.
Knapp drei Viertel des gesamten Güterverkehrs in Deutschland werden von Lkws umgeschlagen. Doch die Zahl der Berufsfahrer sinkt seit Jahren, nur 2,6 Prozent sind jünger als 25. © dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Von Andreas Austilat

Heiko flucht leise. Lautstärke hätte auch keinen Sinn, denn der Lastwagenfahrer, über den er sich ärgert, steht mit seinem 40-Tonner in der Schweiz. Heiko aber, der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sitzt beinahe 1000 Kilometer entfernt von ihm im brandenburgischen Zossen im Obergeschoss einer ehemaligen Gaststätte, deren Festsaal zu Büros umgebaut wurde. Heiko ist Disponent der Firma Ludwigsfelder Logistik.

47 Lkws rollen für das Unternehmen durch Europa, alles 40-Tonner, alle mit Sattelauflieger. Heiko hat zusammen mit zwei Kollegen den Auftrag, von Zossen aus dafür zu sorgen, dass die Laster nie lange stillstehen. Egal, wo sie ihre Fracht gerade abgeladen haben.

Und so starrt er auf seinen Monitor und wird gerade Augenzeuge, wie eine Lieferkette reißt. Auf besagtem Parkplatz in der Schweiz, auf dem 24 Tonnen Melonen auf ihrem Weg von Narda in Süditalien nach München nie hätten landen sollen. Gerissene Lieferketten sind eines der großen Probleme dieses Jahres. Meist taucht dann China in der Berichterstattung auf, von Schiffen ist die Rede, die vor dem Hafen von Shanghai auf ihre Ladung warten oder vor Wilhelmshaven in der Nordsee dümpeln.

Es fehlen bis zu 80.000 Trucker

Doch 72 Prozent des gesamten Güterverkehrs in Deutschland werden nach Angaben des Bundesverbandes Güterverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) durch Lastwagen umgeschlagen. Allein in Deutschland wurden sie im Jahr 2020 von rund 560.000 Berufskraftfahrern gelenkt. Doch die Zahl sinkt seit Jahren. Bereits jetzt fehlen dem BGL zufolge 60.000 bis 80.000 Trucker. Vorstandssprecher Dirk Engelhardt warnt am Telefon vor einer schweren Krise, schon in zwei Jahren drohten britische Verhältnisse.

Damit meint er die Situation kurz nach dem Brexit, als auf der Insel mangels Fahrern die Laster stillstanden und sich nicht nur in Supermärkten rasch große Lücken auftaten. Mitte Mai erklärte der BGL in einer Stellungnahme anlässlich einer aktuellen Anhörung des Verkehrsausschusses im Bundestag, dass weitreichendes Gegensteuern gefordert sei.

Grundsätzlich fehlen Fahrer in einer Branche, in der die Arbeitsbedingungen so hart sind, dass der Nachwuchs schnell wieder aufgibt. Sofern er denn überhaupt die erste Hürde nimmt: den Lkw-Führerschein. Die Ausbildung erfordert mindestens 140 Fahrstunden und kostet in der Regel 10.000 Euro. Nur die wenigsten Fuhrunternehmer lassen sich auf die teure Schulung ein, denn die Abbrecherquoten sind hoch.

Geblieben sind die Älteren

Geblieben sind die Älteren, die Generation 50 plus, für die es heute zu spät ist, beruflich irgendwo neu anzufangen. 29,4 Prozent der Trucker in Deutschland sind nach Branchenangaben zwischen 55 und 65 Jahre alt. 3,1 Prozent sind noch älter, aber nur 2,6 Prozent unter 25 Jahre.

„Zuverlässigkeit ist wichtig für unser Überleben als Firma“, sagt Thomas Hansche, Heikos Chef und Geschäftsleiter der Ludwigsfelder Logistik. „Das ist unsere Nische.“ Über den Preis kann er mit Konkurrenten aus Polen, Litauen oder der Slowakei nicht mithalten. Sozialdumping nennt er das. Ein Mittelständler wie er, der nicht über ein internationales Netzwerk verfügt, ist dadurch in seinem Bestand gefährdet. Die Folgen, sagt Hansche, liegen auf der Hand: Deutschland begebe sich einmal mehr auf einem wichtigen Wirtschaftssektor in die Abhängigkeit von ausländischen Anbietern.

Disponent Heiko verfolgt im Büro Routen durch ganz Europa.
Disponent Heiko verfolgt im Büro Routen durch ganz Europa. © Andreas Austilat

Doch „so zynisch es klingen mag“, gerade verschiebe der Ukrainekrieg die Gewichte, sagt Hansche. Die ausländische Konkurrenz hat zwar den Vorteil, dank eines bilateralen Abkommens ukrainische Fahrer anheuern zu dürfen, die billiger sind als ihre Landsleute. A ber sie steht vor Problemen, weil zehntausende ukrainische Fahrer nun gegen die russischen Invasoren kämpfen und nicht mehr im Lkw sitzen.

Nicht zuletzt deshalb steigen seit Monaten die Frachtpreise. Was Thomas Hansche derzeit hilft, die andere große Bedrohung zu überstehen: exorbitant steigende Spritpreise.

Erwartet wird die Punktlandung

Die Gewinnspannen für kleinere Mittelständler wie Hansche sind knapp. „Es wird um jeden Cent gefeilscht“, sagt Disponent Heiko. Und um jede Arbeitsstunde. Früher hätte es eine Spanne für Warenannahme gegeben, zum Beispiel von sechs bis elf Uhr. Heute wird die Punktlandung erwartet. Der enge Terminplan ist vielleicht das Schlimmste. Denn der Straßenverkehr hat nun einmal seine Unwägbarkeiten. Und die sorgen zusätzlich für fragile Lieferketten.

Dafür sitzen die Disponenten also hier in dem ehemaligen Festsaal in Zossen vor jeweils zwei Monitoren, auf dem einen eine Europakarte, auf der sie ihre Lastwagen verfolgen können, auf dem anderen Frachtbörsen wie Timocom, auf der ständig neue Aufträge reinkommen, für die sie dann ein Angebot abgeben. Kommt ein Vertrag zustande, wird er so schnell wie möglich an den Fahrer weitergegeben, oft per Whatsapp.

Aber zurück zu Heikos Problemlaster in der Schweiz. „Der dürfte gar nicht in der Schweiz sein“, sagt der 47-Jährige. Er ist früher selbst gefahren, aber nur bis zwölf Tonnen und nur innerhalb Deutschlands. Als sich in Österreich am Brenner ein Stau abzeichnete, habe der Fahrer eigenmächtig entschieden, Richtung Schweiz abzubiegen. Und das hätte er ohne Rücksprache nicht tun sollen, sagt Heiko, vor allem nicht mit einbrechender Nacht.

Er hätte nicht in die Schweiz abbiegen dürfen

Die Ladung ist nicht als Transitware verplombt, darf unversiegelt aber nicht durch das Nicht-EU-Land Schweiz gebracht werden. Außerdem hat der Fahrer mit seiner Entscheidung gegen das Nachtfahrverbot auf Schweizer Landstraßen verstoßen. Die Polizei zog ihn aus dem Verkehr, untersuchte das Zugfahrzeug bei der Gelegenheit noch ein bisschen gründlicher und beanstandete die Bremsen. Nun muss der Disponent ein anderes Fahrzeug finden, nahe genug, um den Auflieger noch am selben Tag aus der Schweiz zu schaffen, sonst wird zum Bußgeld auch noch Strafzoll fällig, von 20.000 Euro ist die Rede.

Thomas Hansche protestiert nur kurz, die Bremsen seien doch erst vor 14 Tagen vom deutschen TÜV abgenommen worden. Aber im Prinzip ist er ja auch für strengere Kontrollen. Vor allem wenn es um die Einhaltung der Kabotageregel geht. Franzosen und Italiener seien da noch rigoroser, sagt er. Die Regel erlaubt innerhalb der EU, im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung auch außerhalb des Heimatlandes Frachten aufzunehmen – allerdings nur sehr begrenzt. Sie wurde 2010 aus Umweltschutzgründen durchgesetzt, um Leerfahrten zu vermeiden, Weil sie aber nur unzureichend kontrolliert würde, habe sie zu einem ungerechten Wettbewerb geführt, sagt Hansche.

Der Lkw wartet auf den Container und fehlt anderswo

Unternehmen wie seines stünden deshalb unter Druck und würden wohl langfristig verschwinden. Hansche, 47, wurde in Glienick geboren, jenem Ortsteil von Zossen, in dem er heute seinem Geschäft nachgeht und noch immer wohnt. Wenn Not am Mann ist, setzt sich der Betriebswirt selbst ans Steuer, allerdings nur bis 7,5 Tonnen.

Wenn es aktuell irgendwo hakt, dann auch deshalb, weil die Lieferketten irrsinnig lang geworden seien, versichert er. Man nehme nur einmal den Container, der nicht wie geplant im Hafen eintrifft. Dann steht der Lkw dort und wartet. Ein Lkw, der anderswo fehlt.

Was die die Kontrollen der Kabotageregel angeht, da sind sich Hansche und BGL-Vorstandssprecher Dirk Engelhardt einig. Das könne doch auch digital geschehen. Vielleicht unter Auswertung der Maut-Daten. Was derzeit allerdings auf Bedenken beim Datenschutz stößt.

Ebenfalls Einigkeit besteht in der Ansicht, dass die Branche attraktiver für Nachwuchsfahrer werden müsse. Es geht nicht nur um mehr Geld, sondern auch um bessere Arbeitsbedingungen. Der BGL hat in besagter Anhörung im Verkehrsaussschuss gefordert, die Fahrer von Ladetätigkeiten zu entlasten, wie es in Portugal und Spanien bereits gesetzlich geregelt ist. Die Rede ist aber auch von mehr Parkplätzen und Rastanlagen sowie besser ausgestatteten Fahrerkabinen etwa mit Waschbecken und WC.

In einer wichtigen Frage hat Hansche jedoch eine andere Meinung als der Verband. Er glaube nicht, dass am Ende in Deutschland die Regale leer bleiben, weil Fahrer fehlten. Es könne zwar sein, dass vorübergehend nicht mehr 15, sondern nur noch zehn Joghurtsorten im Regal stünden. Und ja, wenn Panik ausbreche, könne jedes Produkt schnell knapp werden, weil die Leute sich wie verrückt darauf stürzen, sei es nun Klopapier oder Sonnenblumenöl.

Doch wenn wirklich Fahrer fehlten, entscheide der Preis, und da könne Deutschland mehr bieten als andere EU-Länder. „Notfalls würden dann rumänische Fahrer eingeflogen“, um nur ein Beispiel zu nennen. Immerhin sei das bei Spargelpflückern schon geschehen. Die Regale würden dann nicht in Deutschland leer bleiben, sondern in Rumänien.

Es gilt, die Jüngeren zu gewinnen

Deshalb steht Hansche der Forderung nach einer schnelleren Anwerbung ausländischer Fahrer und Anerkennung ihrer Führerscheine hierzulande reserviert gegenüber. Er zöge es vor, die Fahrer besser zu behandeln, damit es gelänge, auch hier Jüngere für den Job zu gewinnen.

Auf dem Hof der Ludwigsfelder Logistik macht sich derweil Tomasz Stremlau bereit fürs Wochenende bei seiner Familie in Guben. Stremlau ist gerade von seiner letzten Tour eingetroffen. Der kräftige Mann mit fast kahlem Schädel, der vor 37 Jahren in einer Kleinstadt südlich von Danzig geboren wurde, lebt seit 2005 in Deutschland. Er strahlt mit breitem Grinsen, es ist Freitagnachmittag, und vor ihm liegt ein freies Wochenende zu Hause, keine Selbstverständlichkeit.

17 Jahre fährt er schon für deutsche Firmen, zahlt hier Steuern und Sozialversicherung. Fünf Betriebe hat er hinter sich und rund zwei Millionen Kilometer, beinahe 50-mal um die Welt. Seit acht Jahren fährt Stremlau für Hansche. So einen Chef habe er noch nie gehabt, der darauf achte, dass seine Fahrer wenigstens zweimal im Monat ein freies Wochenende zu Hause hätten, sagt er.

Cholerische Chefs hat er stattdessen erlebt und Disponenten, die ihren Fahrern Touren aufdrücken, die gar nicht zu schaffen seien. Alle stehen unter Druck. Nur der Fahrer kann ihn nicht weitergeben. Höchstens zu Hause. Stremlau ist das zweite Mal verheiratet. „Der Job“, sagt er über seine erste gescheiterte Ehe, „macht viel kaputt.“

Nach der Fahrt kommt das Entladen

Nein, leicht war es nie. Die Lenkzeit ist zwar auf neun Stunden begrenzt, die er nach viereinhalb Stunden für 45 Minuten unterbrechen muss, aber zweimal in der Woche dürfen es zehn Stunden sein. Und nach der Fahrt komme das Be- oder Entladen, denn oft sei dafür gar kein Personal vorgesehen, das ihm helfe. Ladezeit ist keine Lenkzeit. Dann kommt er auf 15 Stunden Arbeit binnen 24 Stunden.

Gibt es zu wenig Fahrer? „Definitiv“, sagt Stremlau. Dann lädt er in seinen tintenblauen Laster ein, 40 Tonnen schwer, 16,50 Meter lang. Das heißt, kurz hält er inne, beäugt die Schuhe seines Besuchers. Straßenschuhe sind eigentlich nicht erlaubt, er hat sogar einen entsprechenden Aufkleber an der Treppe zum Beifahrersitz. Und eine Druckluftpistole zum Säubern der Schuhsohlen. „Sie müssen verstehen“, sagt er, und zeigt auf den makellosen Teppich, „das hier ist mein Arbeits-, Wohn-, und Schlafzimmer.“

Tomasz Stremlau in seinem „Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer“.
Tomasz Stremlau in seinem „Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer“. © Andreas Austilat

Tomasz Stremlau kann von vielen langen Fahrten erzählen. In England haben sie ihm mal den Tankdeckel zerstört, um auf dem Rasthof an den Diesel zu kommen. Da hatte er noch Glück, es gab Kollegen, denen wurde bei der Gelegenheit der Tank angebohrt. Dabei meidet er überfüllte und dreckige Rastplätze, fährt lieber runter von der Autobahn, um irgendwo am Straßenrand in einem Gewerbegebiet zu übernachten. Er habe immer alles dabei, sagt er, und zeigt auf den Kühlschrank, die Klappkoje, den Kocher und seine Vorräte an Tee und Kaffee.

Die Rastplätze meidet er

Manchmal aber habe er keine Wahl, dann muss er stoppen, weil das Ende der Lenkzeit erreicht sei. Es gebe Kollegen, gerade aus Osteuropa, die halten überall, weil sie wissen, dass die Überschreitung der Lenkzeit sie 60 Euro kosten kann, was ihnen vom Lohn abgezogen wird. Wenn es sie im Stau erwischt, dann bleiben sie halt auf dem Standstreifen stehen.

Die Jungen, sagt er, die kommen, weil sie es toll finden, mal in so einer großen Maschine zu sitzen. Es kommen auch die, denen das Arbeitsamt den Lkw-Führerschein bezahlt, weil Fahrer ja gebraucht werden, selbst wenn die das gar nicht wollen würden. Die sind dann schnell wieder weg, wenn sie den Alltag kennengelernt haben.

„Dabei sind wir es, die die Wirtschaft bewegen“, sagt Tomasz Stremlau mit dem ihm eigenen Strahlen, „wir müssten doch freudig begrüßt werden, weil wir bringen, worauf die anderen warten.“ Seinem Sohn würde er trotzdem auf jeden Fall empfehlen, einen anderen Beruf zu ergreifen.

Disponent Heiko hat inzwischen sein Schweizer Problem gelöst, endlich einen Fahrer in der Nähe erreicht. Vier Stunden ist der von dem Parkplatz entfernt – und das Beste: Er hat noch acht Stunden Lenkzeit offen, wie Heiko an einem grünen Balken auf seinem Monitor sehen kann. Genügend Zeit, um den gestrandeten Trailer aufzunehmen und rechtzeitig aus der Schweiz zu schaffen. Die Melonen auf dem Trailer aber, die kommen in jedem Fall zu spät.