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Streikland Deutschland: Warum die Lust am Arbeitskampf steigt

In diesem Jahr rollt eine Streikwelle durch Deutschland wie lange nicht mehr: bei Bus und Bahn, im öffentlichen Dienst und Luftverkehr. So etwas könnte bald noch häufiger geben.

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Maler überdecken den schwarzen Schriftzug "Streik" mit weißer Farbe, um anschließend die Wand neu zu streichen. In Deutschland nimmt die Zahl der Streiks zu.
Maler überdecken den schwarzen Schriftzug "Streik" mit weißer Farbe, um anschließend die Wand neu zu streichen. In Deutschland nimmt die Zahl der Streiks zu. ©  Julian Stratenschulte/dpa (Symbolbild)

Düsseldorf. Ausbleibende Busse und Bahnen, gecancelte Flüge und verschlossene Türen in kommunalen Kindergärten: Ungewohnt oft haben die Menschen in Deutschland in den vergangenen Monaten die Folgen von Warnstreiks am eigenen Leib zu spüren bekommen. Dabei gelten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland im internationalen Vergleich eigentlich als nicht sonderlich streikfreudig. Doch das könnte sich ändern.

"Möglicherweise werden wir in Zukunft mehr Streiks in Deutschland sehen", sagte Thorsten Schulten, Tarifexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. "Arbeitsniederlegungen könnten den Charakter des Außergewöhnlichen verlieren, den sie bislang noch haben, und einfach zu Tarifauseinandersetzungen dazugehören", sagte Schulten.

Die Gründe sind für den Experten offensichtlich: "Wir haben eine ziemlich heftige Tarifrunde, weil wir in ziemlich heftigen Zeiten leben - mit hohen Preissteigerungen und der Frage, wer am Ende die Kosten der Inflation trägt." Hinzu komme, dass die Beschäftigten spürten, dass sich der Arbeitsmarkt durch den Arbeitskräftemangel in vielen Bereichen verändert habe und die Beschäftigten sich nichts mehr gefallen lassen müssten.

Auch das arbeitgernahe Institut der deutschen Wirtschaft kam gerade erst in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Gewerkschaften in diesem Jahr wieder "deutlich konfliktfreudiger" geworden seien. "Die Tarifverhandlungen werden in diesem Jahr wieder deutlich konfliktreicher geführt als 2022, und diese Entwicklung dürfte sich auch im weiteren Jahresverlauf weiter fortsetzen - nicht zuletzt wegen der Reallohnverluste in den vergangenen drei Jahren", sagte der IW-Tarifexperte Hagen Lesch.

Tatsache ist: Nach den jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes mussten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland aufgrund der hohen Inflation allein im vergangenen Jahr Reallohneinbußen von 4 Prozent hinnehmen.

Im Vergleich leben wir in streikarmem Land

Schulte und Hagen warnten allerdings vor einer Überdramatisierung der jüngsten Arbeitskämpfe. Im langfristigen Vergleich sei die Entwicklung nicht dramatisch, meint IW-Experte Lesch. "Die Konfliktintensität war in den ersten drei Monaten dieses Jahres nicht höher als im langjährigen Durchschnitt." Es erscheine den Menschen nur so, weil von den Warnstreiks diesmal wichtige Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge wie der öffentliche Nahverkehr, der Luftverkehr, die Bahn und der öffentliche Dienst betroffen gewesen seien.

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"Insgesamt ist Deutschland im internationalen Vergleich immer noch ein relativ streikarmes Land mit einem vergleichsweise restriktiven Streikrecht", heißt es auch in der am Donnerstag vom WSI veröffentlichten Arbeitskampfbilanz 2022. Danach gab es im vergangenen Jahr 225 Arbeitskämpfe, an denen insgesamt 930.000 Streikende teilnahmen. Rechnerisch fielen dadurch 674.000 Arbeitstage aus. Damit sei 2022 trotz der hohen Inflation und der damit verbundenen Reallohnverluste ein relativ durchschnittliches Streikjahr gewesen. Laut WSI verfügt nur etwa jeder sechste Beschäftigte in Deutschland (17 Prozent) über eigene Streikerfahrung.

Im internationalen Vergleich, bei dem die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1000 Beschäftigte miteinander verglichen werden, liegt Deutschland mit 18 ausgefallenen Tagen laut WSI weiterhin im Mittelfeld. Zum Vergleich: In Belgien zählten die WSI-Tarifexperten 96 Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigen und in Frankreich 92.

"Auch in Zukunft wird Deutschland nicht zu den Ländern gehören, in denen am meisten gestreikt wird", ist der WSI-Experte Schulten überzeugt. "Dass wir in Deutschlands französische Verhältnisse bekommen, was das Thema Streiks angeht, sehe ich nicht." Denn das deutsche Tarifmodell funktioniert ja durchaus noch. Das hätten die Arbeitskämpfe der vergangenen Monate gerade erst bewiesen. "Trotz aller Auseinandersetzungen ist es bisher in keiner Branche zu einem unbefristeten Erzwingungsstreik gekommen, sondern man hat einen Tarifkompromiss gefunden."

Ohnehin sei es kein Automatismus, dass die Zahl der Streiks in Zukunft zunehme, sagte Schulten. "Es muss nicht so kommen, wenn die Arbeitgeber begreifen, dass sie in Zeiten des Fachkräftemangels den Beschäftigten entgegenkommen müssen." (dpa)