Klimawandel: Eisschmelze hebt die Erdkruste an

Es ist diese unglaubliche Weite, die Mirko Scheinert immer wieder andächtig innehalten lässt. „Wenn ich dort stehe und mich umschaue, komme ich mir jedes Mal unglaublich winzig vor“, beschreibt er diese besonderen Momente mitten im Eis.
Dass er beruflich zum regelmäßigen Besucher Grönlands und der Antarktis werden würde, daran hatte er während seines Geodäsie-Studiums Ende der 1980er-Jahre niemals geglaubt. Es sei ein großes Glück, dass es letztlich so gekommen ist. „Ich weiß während der Expeditionen sehr genau, dass es ein absolutes Privileg ist, in solche Gegenden zu kommen.“
Zehnmal war er bereits in Grönland, achtmal am Nordpol. Mit seinen Kollegen und Kolleginnen an der Professur für Geodätische Erdsystemforschung am Institut für Planetare Geodäsie der TU Dresden kümmert sich der wissenschaftliche Mitarbeiter vor Ort um ganz besondere Messgeräte. Mit ihnen ermittelten sie nun, welchen Einfluss das Schmelzen des Grönland-Eises auf die Erdkruste hat.

Messen, wie sich ein Fels bewegt
Ein Wort mit Zungenbrecher-Garantie: Nioghalvfjerdsbræ. Der Gletscher mit diesem Namen befindet sich in Nordost-Grönland, bei 79 Grad nördlicher Breite.
„Eigentlich heißt das auf Dänisch nichts anderes als 79-Gletscher“, erzählt Scheinert. Schließlich ist die eisige Insel ein autonomer Teil Dänemarks. Der Nioghalvfjerdsbræ ist einer der großen Ausflussgletscher Grönlands und hat gigantische Ausmaße.
Er besitzt eine mehr als 75 Kilometer lange, schwimmende Gletscherzunge, die zwischen 22 und 32 Kilometer breit ist.
Schon mehrfach hat Mirko Scheinert Zeit im Gletschergebiet verbracht. An insgesamt 17 Stationen im Nordosten des Landes sammeln die Dresdner nämlich wichtige Daten. An eisfreien Stellen sind dafür Messpunkte im Fels platziert worden. Mittels Antenne übertragen diese ihre Daten. Sie nutzen GNSS, das globale Navigationssatellitensystem zur Positionsbestimmung.
„Damit kann ein Punkt auf der Erde mit nur wenigen Millimetern Abweichung genau bestimmt werden“, erklärt Scheinert. Bewegt sich der Fels also nur wenige Millimeter, ist das in den Daten sichtbar. Für den Zeitraum zwischen 2010 und 2017 zeigten die Dresdner nun in Zusammenarbeit mit der TU Dänemark erstmals bemerkenswerte Veränderungen der Eismassen.
Zur Datenauswertung kombinierten die Forscher verschiedene Satellitenverfahren. Die neuartige Methode bezieht nicht nur den Eisschild mit ein, sondern auch die Eiskappen und peripheren Gletscher, also frei stehende Eismassen, die nicht mit dem Grönländischen Eisschild verbunden sind. So konnten die Wissenschaftler darstellen, wie der Eismassenverlust und die Deformation der Erde zusammenhängen.
„Verschwindet das Eis, übt es weniger Druck auf die Erdkruste aus“, erklärt Mirko Scheinert. Diese wiederum sei nicht starr, sondern könnte sich verformen. Im vorliegenden Fall stellten die Forscher fest, dass die Druckentlastung zum Anheben der Erdkruste führt. Das wirkt sich auch auf die Entwicklung des Meeresspiegels aus.

Schmelzwasser lässt Meeresspiegel ansteigen
233 Milliarden Tonnen Eismasse gehen pro Jahr in ganz Grönland verloren – das entspricht im Verlauf der betrachteten sieben Jahre ungefähr 0,63 Promille der grönländischen Gesamteismasse. Das klingt im ersten Moment nicht viel. Verteilt man dieses freigesetzte Schmelzwasser jedoch gleichmäßig über der Fläche von Deutschland, würde sich eine 4,6 Meter mächtige Wasserschicht ergeben.
„Natürlich finden unsere Messungen nur an der Erdoberfläche statt, was darunter passiert, da fehlt uns der Einblick“, ordnet Scheinert die Ergebnisse ein. Doch schon heute gebe es Punkte in Grönland, an denen die größte Anhebung neun Millimeter pro Jahr betragen würde.
Wenn Wanderer in den Alpen im Sommer plötzlich über Schotter laufen, wo vor einigen Jahren noch Gletscher war, dann wird jedem das Schmelzen des Eises deutlich. „Solche Veränderungen sind auf den riesigen Flächen in Grönland mit den menschlichen Augen nur schwer auszumachen“, sagt der promovierte Geodät.
Oft sind sie auf ihren Forschungsreisen mit dem Hubschrauber unterwegs, in der Antarktis auch auf dem Expeditionsschiff Polarstern. „Auch wenn das nicht mein Spezialgebiet ist, erkenne aber auch ich heute schon die Zeichen dafür, dass sich dort etwas ändert.“

Gerade der schleichende Anstieg des Meerwasserspiegels sei in Zukunft ein herausforderndes Thema. Aus wenigen Millimetern pro Jahr könnten in Zukunft Zentimeter werden.
Eine Gefahr nicht nur für küstennahe Gebiete in der Welt. „Deshalb ist es wichtig, dass wir im Blick behalten, was in Grönland und an den Polen passiert.“ Die Dresdner Forscher wollen dazu ihren Beitrag leisten.
Bereits in diesem Jahr ist wieder eine Expedition nach Grönland geplant, Mirko Scheinert will mit dabei sein. Es wäre dann schon seine elfte Reise ins dortige Eis.