War das eine Aufregung, als im Juni bekanntwurde, wofür Sachsen seine für den Kohleausstieg bestimmten Bundesmilliarden vorerst nicht verwenden will: unter anderem für die versprochene Elektrifizierung der Bahnlinie Dresden–Görlitz. Stattdessen stehen auch zwei Forschungszentren, eine ICE-Linie Berlin–Weißwasser–Görlitz, die Ansiedlung von Bundesbehörden eine neue S-Bahn Leipzig–Gera im mit dem Bund vereinbarten Plan. Allein die Forschungsinstitute verschlingen fast ein Drittel der 6,5 Milliarden Euro. Kritiker, wie der Bautzener Oberbürgermeister Alexander Ahrens (SPD), sprechen von einem „fatalen Signal“ und einer „nicht nachvollziehbaren Entscheidung“.
"Die Elektrifizierung wird kommen“, beschwichtigt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Aber warum steht sie dann nicht auf der Liste? Weil die Kostenschätzung von 961 Millionen Euro „viel zu hoch“ sei, sagt der Premier. Der Freistaat habe das Bundesverkehrsministerium aufgefordert, die Rechnung „zu qualifizieren“. Auch seien Vorschläge gemacht worden, „wie etwa beim Bahnstrom aus der Region Kosten reduziert werden können“.
20 Millionen für ein Umspannwerk
Nach SZ-Recherchen gibt es eine im doppelten Wortsinn naheliegende Alternative: Die Bahnlinie schlängelt sich zwischen zwei fast parallelen Starkstromleitungen. „Wir sind direkt neben der Bahntrasse“, bestätigt Frank Brinkmann, Vorstandschef der Sachsen-Energie AG, auf Anfrage. Statt des Baus einer 60 km langen Bahnstromleitung zwischen Arnsdorf und Pommritz brauche es neben dem Stromanschluss der DB in Arnsdorf nur ein Umspannwerk bei Kubschütz oder Görlitz, um die Frequenzen zu wandeln, sagt er.
Sachsen-Energie hatte seine 110-Kilovolt-Leitung aus Dresden heraus erst vor wenigen Jahren für viel Geld erneuert. „Vor den damaligen Neubauten wurde die DB von uns angefragt, mitzubauen, sah aber keinerlei Bedarf“, bestätigt Steffen Heine, Geschäftsführer der Sachsen-Netze GmbH.
Eine Elektrifizierung mittels Umrichtern kostet laut Sachsen-Energie-Chef Brinkmann einen Bruchteil dessen, was die Bahn veranschlagt. „Aus unserer Sicht ist das Gesamtpaket Dresden–Görlitz für 100 bis 150 Millionen Euro zuzüglich baulicher Änderungen an der Trasse machbar – und das nicht in zwölf, sondern in vier Jahren“, schätzt er. Auch werde Bürokratie gespart, weil die Bahn für Oberleitungen keine langen Planungsverfahren mehr brauche.
Selbst für die Energiewende seien neue Hochspannungstrassen eine Herausforderung, argumentiert der Konzernchef. Für die Bahn-Elektrifizierung seien sie schlichtweg überflüssig. „Bahnstrom kann anders, viel schneller, billiger, hochwertiger und landschaftsschonender angeschlossen werden“, so Brinkmann. Ein Umspannwerk koste rund 20 Millionen Euro und beanspruche gerade 75 mal 75 Meter Fläche.
Blaupause in der Lausitz
Die Bahn hat ländliche Regionen abseits ihres 110_KV-Netzes in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg bereits mittels Umrichtern und Regionalversorgern erschlossen – auch in der Lausitz. Das Werk Lohsa/West wandelt Strom der Firma Mitnetz-Strom mit 110 Kilovolt-Hochspannung und 50-Hertz-Frequenz auf Wechselstrom mit 15 kV und 16,7 Hz für die ausgebaute Güterbahntrasse Knappenrode–Horka–polnische Grenze.
Gibt es irgendwelche Nachteile? „Ich suche sie noch immer“, sagt Brinkmann. Auch das Argument der Bahn, ihr Netz sei sicherer, könne er widerlegen. Sachsen-Energie ist seit der Fusion von Drewag und Enso mit 3.300 Mitarbeitenden und 2,8 Milliarden Euro Jahresumsatz der viertgrößte kommunale Versorger Deutschlands. Er bedient Dresden, die Landkreise Meißen, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, Bautzen, Görlitz mit Strom, Wasser, Wärme und Breitband – ein Gebiet mit 1,5 Millionen Einwohnern.
Aber auch 150 Millionen Euro für die Bahnstrecke müssen finanziert werden. „Wenn sich die überzogene Kostenprognose durch unseren Ansatz drastisch verringert, gehen wir davon aus, dass hier neu verhandelt wird und die Finanzierung über die Strukturförderprogramme des Freistaates oder des Bundes gedeckt werden kann“, sagt Sachsen-Energie-Chef Brinkmann. Mit dem Sparmodell ließen sich auch die Linien Zittau–Görlitz–Cottbus, Zittau–Bischofswerda realisieren – ebenso die teils unterirdische Neubaustrecke Dresden–Prag.
Die Elektrifizierung Dresden–Görlitz „bleibt eines der wichtigsten Verkehrsprojekte“, Grundvoraussetzung für ein Fernverkehrsangebot auf der Strecke nach Breslau und eines umsteigefreundlichen Nahverkehrs mit kurzen Wegen, erklärt Sachsens Verkehrsministerium. Auch der Plan, Hoyerswerda ans S-Bahn-Netz Dresden anzubinden, erfordere diesen Ausbau. „Je geringer die Kosten, umso besser stehen die Chancen der Realisierung“, so das SMWA.
Die Deutsche Bahn lässt Fragen der SZ unbeantwortet. Stattdessen ein allgemeines Statement: „Wir verfolgen die Abstimmung zwischen Bund und Ländern bezüglich des Infrastrukturstärkungsgesetzes für die Kohleregionen aufmerksam“, sagt eine Sprecherin. Bund und Länder entschieden über Auswahl und Ausgestaltung der Projekte. „In die Planung und Umsetzung bringen wir uns aktiv ein“, heißt es.
Es sind noch Gelder frei
Entgegen der verbreiteten Meinung ist das Projekt nicht tot. Hinter den Kulissen tut sich was, und manch empörter Bürgermeister dürfte sich verwundert die Augen gerieben haben, als er trotz Absage des Freistaats eine „Raumwiderstandsanalyse“ im Briefkasten fand. Die angeschriebenen 35 Kommunen und Träger öffentlicher Belange können dort ihre Bedenken vorbringen.
Für Joachim Ragnitz vom Ifo Institut in Dresden „spricht einiges dafür, die Elektrifizierung aus den Strukturstärkungsmitteln zu finanzieren“. Das Vorhaben stehe im Gesetz und werde auf jeden Fall umgesetzt. Der stellvertretende Niederlassungsleiter hält die Aufregung für übertrieben – „aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben“, sagt er und rät: „Freistaat und DB sollten daher die Planungen soweit vorantreiben, dass man mit dem Bau unverzüglich beginnen kann, wenn die Mittel freigegeben werden.“ Laut Ministerpräsident Kretschmer wird im September erneut beraten, fällt bis zum Jahresende die Entscheidung. Für die Lausitz seien – anders als für das Mitteldeutsche Revier bei Leipzig – noch Gelder frei.
Ein überfälliges Vorhaben
- Die 1844-1847 gebaute Linie misst 102 km, davon sind 95 km ab Dresden-Klotzsche noch nicht unter Strom.
- Das Projekt wurde 2003 in einem deutsch-polnischen Staatsvertrag fixiert und sollte längst realisiert sein.
- Polen hat seine Hausaufgaben gemacht und bis Zgorcelec elektrifiziert.
- Der Bundesverkehrswegeplan 2030 führt das Projekt im „potenziellem Bedarf“, das heißt auf dem Abstellgleis.
- Der Plan benennt ausdrücklich auch die fünf betroffenen Wahlkreise.
- Er belegt 9 Minuten Fahrzeiteinsparung und ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von 0,7 – also keine Wirtschaftlichkeit.
- Eine Studie „Elektrische Güterbahn“ spricht trotz jährlicher Einsparungen von 6,3 Millionen ¤ im Personen- und Güterverkehr sogar von 0,32.