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Vom Glück, Neues zu wagen

Der Verlag Rohnstock-Biografien hat den zweiten Band seiner Berufs-Biografien aus Ostdeutschland vorgelegt. Auch Sachsen erzählen darin ihre Geschichten.

Von Annett Kschieschan
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Ferropolis - die Stadt aus Eisen - ist heute ein Industriedenkmal. Zu DDR-Zeiten wurde hier im großen Stil Braunkohle gefördert. Auch davon erzählt das Projekt „Transformationserfahrungen aus Ostdeutschland“.
Ferropolis - die Stadt aus Eisen - ist heute ein Industriedenkmal. Zu DDR-Zeiten wurde hier im großen Stil Braunkohle gefördert. Auch davon erzählt das Projekt „Transformationserfahrungen aus Ostdeutschland“. © AdobeStock

Jobwechsel sind heute ganz normal. Noch einmal ganz von vorn beginnen, studieren, sich selbstständig machen - vieles ist möglich. Vor allem aber liegt die Entscheidung dafür in der Hand eines jeden Einzelnen. Das sah vor 30 Jahren oft anders aus. Die politische Wende zwang auch jene zum Neubeginn, die eigentlich gern in ihrem gelernten Beruf und in der Firma, in der sie einst ihre Lehre absolviert hatten, alt geworden wären. Der Bruch in der Biografie als Muster - das hat Erschütterungen ausgelöst, aber auch Kräfte freigesetzt, die zu Erfolgsgeschichten wurden. Der Verlag Rohnstock Biografien hat unter dem Titel „Transformationserfahrungen aus Ostdeutschland“ viele dieser Geschichten in gesammelter Form herausgebracht. Sie bilden gleichsam die zweite Staffel der Erzählsalon-Reihe “30 Jahre Deutsche Einheit: Deine Geschichte – Unsere Zukunft“ ab, die der Verlag seit einigen Jahren organisiert. Begleitet von Autobiografikern berichten Menschen in einem geschützten und trotzdem offenen Raum von ihrem Leben, im konkreten Fall von ihrem Berufsweg, der nach der Wende ganz neue Abzweigungen nahm.

Der Wunsch, mitzugestalten, blieb

Auch Sachsen erzählen. Zum Beispiel Karla Birkmann. Die gebürtige Leipzigerin und gelernte Elektromechanikerin fand in den turbulenten Jahren nach 1990 zur Betriebsratsarbeit. Im Buch erzählt sie von schweren Zeiten, in denen ganze Betriebsbereiche wegbrachen, Mitarbeiter in Größenordnungen ihre Jobs verloren und manchmal bis zum Arbeitsgericht ziehen mussten, um besondere Härten abzuwenden. Karla Birkmann kämpfte, engagierte sich weiter und blieb der Gewerkschaft treu - zuletzt bei BMW in Leipzig. Als ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht arbeitete sie auch als Rentnerin weiter.

Auch für Johannes Düntsch war der Abschied aus dem Berufsleben kein Grund, die Arbeit sein zu lassen. Der einstige ökonomische Direktor der Zittauer Robur-Werke importierte später Tatra-Nutzfahrzeuge und machte sich gemeinsam mit anderen daran, die Geschichte von Robur aufzuarbeiten. Die Entwicklung Zittaus und der Region Ostsachsen insgesamt liegt ihm am Herzen. Der Wunsch, mitzugestalten, blieb.

Die Mischung aus Unsicherheit und Wagemut

Unter dem Titel „Transformationserfahrungen aus Ostdeutschland“ sind Nach-Wende-Geschichten aus den Neuen Bundesländern zusammengefasst.
Unter dem Titel „Transformationserfahrungen aus Ostdeutschland“ sind Nach-Wende-Geschichten aus den Neuen Bundesländern zusammengefasst. © Thorsten Eckert

Das geht vielen der Protagonisten so, obwohl - oder vielleicht gerade, weil – viele von ihnen unerwartete Hürden nehmen mussten. Wer Anfang der 90er Jahre ganz neu begann, zahlte oft reichlich Lehrgeld. Auch das zeigen Zeitzeugenberichte wie der der Kosmetikerin, die nach der Wende mehrere Jeansläden eröffnet und den ganzen Verdienst in teure Mieten und die denkmalschutzgerechte Sanierung der Fenster stecken muss. „Was hab ich für Fehler gemacht - aber wir wussten es nicht besser“ - eine Aussage, die wohl vielen älteren Ostdeutschen bekannt vorkommen dürfte. Das gilt aber ebenso für die Stehaufmännchen-Mentalität. Die Kosmetikerin, die erst eine Drogerie, dann ihre Jeans-Läden aufgab, entwickelt schließlich gemeinsam mit einem Experten eine eigene Pflegecreme. Und dann kam Corona .... auch dieses, ganz aktuelle Kapitel sparen die Zeitzeugenberichte nicht aus. Die Geschichten, erzählt von den Protagonisten selbst und aufgeschrieben von den Autobiografen, entfalten ihre Wirkung nicht selten durch Details, die die Mischung aus Unsicherheit und Wagemut zeigen, die es so nur in jenen „wilden Wendejahren“ gab. Wer sich mit dem Abstand von drei Jahrzehnten erinnert, zieht auch Vergleiche, bei denen die Vergangenheit nicht immer schlechter abschneidet als die Gegenwart.

Vom Tagebau zum Industriedenkmal

Wenn Monika Miertsch, die Baggerfahrerin aus Gräfenhainichen, erzählt, dass es zu DDR-Zeiten selbstverständlich war, dass Frauen in so genannten Männerberufen arbeiteten und dafür den gleichen Lohn erhielten, schwingt das Unverständnis über die vielen Ungerechtigkeiten der aktuellen Zeit mit. Der einstige Arbeitsplatz von Monika Miertsch, der Tagebau Golpa-Nord, ist heute ein Industriedenkmal. Man kann das symbolträchtig finden, hat doch die Wirtschaft in Ostdeutschland eine so gewaltige Transformation erfahren, dass vieles auf der Strecke blieb. Wer einen pessimistischen Grundton erwartet, wird trotzdem enttäuscht.

Aus den Geschichten klingt fast immer auch das Glück nach, unerwartet Neues wagen zu können - und es vor allem endlich zu dürfen. Das Buch beleuchtet nicht nur die Arbeitswelt. Auch die Veränderungen in Politik und Gesellschaft, im Sport, bei der Wohnkultur und im Umweltschutz sind mit Zeitzeugenberichten unterlegt. Sie alle zeigen, dass Geschichte im Persönlichen beginnt und Zivil-Gesellschaft so vielschichtig ist wie es Menschen und ihre Lebenswege eben sind.

Das Projekt wird vom Bundeswirtschaftsministerium und dem Beauftragten für die neuen Bundesländer gefördert. Das E-Book kann auf der Projekt-Website www.deine-geschichte-unsere-zukunft.de kostenfrei heruntergeladen werden. Gedruckte Exemplare können unter [email protected] bestellt werden ( 6,50 € Bearbeitungsgebühr).