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Wie breitet sich radioaktives Material nach einem Reaktorunfall aus?

Doktorarbeit im Exil: Inna Iarmosh arbeitete als ukrainische Forscherin in Kiew. Als der Krieg begann, erhielt sie eine besondere Einladung aus Dresden.

Von Jana Mundus
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Mitten in ihrer Promotion begann der Krieg in ihrem Heimatland. Seit März lebt Inna Iarmosh in Sachsen und arbeitet nun am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf.
Mitten in ihrer Promotion begann der Krieg in ihrem Heimatland. Seit März lebt Inna Iarmosh in Sachsen und arbeitet nun am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf. © www.loesel-photographie.de

Die Verbindung nach Kiew steht. Die Daten fließen, der Zugriff auf den dortigen Server ist möglich. Lange war nicht klar, ob es funktionieren würde. Jetzt hat Inna Iarmosh die Gewissheit: Sie kann weitermachen, die Arbeit an ihrer Doktorarbeit fortsetzen. Dass sie diese eines Tages nicht in der ukrainischen Hauptstadt beenden würde, das hatte die Wissenschaftlerin Anfang des Jahres nicht vermutet. Als Russland am
24. Februar den Nachbarn im Westen angreift, stellt das jedoch auch ihre Welt auf den Kopf. Seit Anfang Juli arbeitet die junge Forscherin am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR). Gemeinsam mit ihrer Mutter und der einjährigen Tochter ist sie nach Sachsen gekommen – auf eine ganz besondere Einladung hin.

Wenn Inna Iarmosh von ihrer Arbeit erzählt, spürt jeder im Raum die Leidenschaft für ihr Tun. In Kiew hatte sie zunächst Umweltschutz und Ökologie studiert. Nach ihrem Studium beschäftigte sie sich in einem EU-Projekt mit der Endlagerung radioaktiver Stoffe. Ihr Ziel war es, das europaweit vorhandene umfangreiche Wissen zu nuklearen Endlagerstätten sinnvoll zu systematisieren. „Während dieser Zeit lernte ich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts für Ressourcenökologie am HZDR kennen“, erzählt sie. Eine von ihnen ist Carola Franzen, die am HZDR verschiedene internationale Projekte begleitet.

Als Ende Februar erste Bomben auf Kiew fallen, ist Carola Franzen beunruhigt. Der Krieg in der Ukraine, der so viel Leid verursacht, ist dem Team am HZDR ganz nah. Er trägt für sie auch das Gesicht von Inna Iarmosh. „Wir haben uns sofort bei ihr gemeldet und ihr Hilfe angeboten – und gehofft, dass sie nach Sachsen kommt.“ Doch dieser Schritt fällt der jungen Mutter alles andere als leicht. In ihrer Heimat arbeitet sie seit acht Jahren für das Staatliche wissenschaftliche und technische Zentrum für nukleare und Strahlungssicherheit. Sie steckt außerdem mitten in ihrer Promotion, hat nur noch ein Jahr bis zur Fertigstellung. Thematisch befasst sie sich darin mit der Frage, welche Auswirkungen radioaktive Schadstoffe auf Böden und damit auch auf das Grundwasser haben. „Die größte Sorge war und ist die um meinen Mann“, erzählt sie. Er darf das Land nicht verlassen, weil aufgrund der militärischen Mobilmachung Männer im wehrfähigen Alter in der Ukraine bleiben müssen.

Dresdner Forscher unterstützen Familie

Nach einer Woche, am ersten Geburtstag ihrer Tochter, fällt die Familie die schwere Entscheidung: Inna, ihre Tochter und ihre Mutter kommen nach Deutschland. Ihr Mann bleibt zurück. Die Flucht in die Ungewissheit beginnt am 4. März. In Prag holt Carola Franzen die Familie mit einem eilig besorgten Kleinbus ab. „Dann haben wir die drei erst einmal für einen Monat privat bei uns untergebracht, bis eine Wohnung gefunden wurde“, berichtet sie.

Von heute auf morgen das Land zu verlassen, irgendwo anzukommen, etwas Neues aufzubauen und jeden Tag um Mann und Heimat Angst zu haben – wie sich das anfühlt, das können die Rossendorfer Wissenschaftler nur schwer nachempfinden. Aber sie tun alles, damit der Start im sächsischen Exil gelingt. Viele unterstützen mit Spenden, besorgen Kleidung, Spielsachen und Möbel für die bald gefundene Wohnung. „Meine neuen Nachbarn sind wunderbar und helfen mir ebenfalls sehr“, schildert Inna Iarmosh.

Derweil kümmert sich das Team von Vinzenz Brendler, Professor und Abteilungsleiter am Institut für Ressourcenökologie, darum, dass es für die ukrainische Kollegin auch beruflich und in Sachen Promotion weitergehen kann. „Wir kannten Inna aus den vorangegangenen Projekten und schätzen ihre Expertise sehr“, sagt Brendler. Kurz entschlossen bewarb er sich bei der Volkswagenstiftung im Rahmen des Gastforschungsprogramms für geflohene ukrainische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen um ein Forschungsstipendium für sie.

Brendler ist immer noch überrascht, wie schnell das alles ging. Die Formulare und Begründungen für die Bewerbung, die Unterschriften der HZDR-Verantwortlichen – all das steht in wenigen Tagen. „Eine tolle Leistung des Teams“, sagt er. Der Einsatz wird belohnt. Schon nach kurzer Zeit kommt die positive Nachricht: Die Doktorandin bekommt ab 1. Juli ein Jahr lang ein monatliches Stipendium von 2.200 Euro und kann damit weiter an ihrer Promotion arbeiten.

Was passiert im verstrahlten Boden?

Wissenschaftlich betrachtet wird deren Fokus noch ein wenig weiter als ursprünglich gedacht. Inna Iarmosh ist eine Expertin für wissenschaftliche Modelle, die mithilfe einer großen Datenmenge am Computer entstehen. Während der Pandemie rückten solche Modelle in den Blickpunkt, indem sie die Ausbreitung von Aerosolen in der Luft oder aber auch die Entwicklung der Corona-Zahlen prognostizierten. Die ukrainische Forscherin interessiert hingegen, was nach einer Verseuchung von Gebieten durch nukleare Strahlung passiert.

Wie sich radioaktive Schadstoffe in der Sperrzone von Tschernobyl ausbreiteten, erforscht die Ukrainerin schon seit einigen Jahren. Sie interessiert, was mit ihnen im Boden passiert und lässt Computer Vorhersagen dazu machen.
Wie sich radioaktive Schadstoffe in der Sperrzone von Tschernobyl ausbreiteten, erforscht die Ukrainerin schon seit einigen Jahren. Sie interessiert, was mit ihnen im Boden passiert und lässt Computer Vorhersagen dazu machen. © AP

In Kiew beschäftigte sie sich intensiv mit der Ausbreitung radioaktiver Schadstoffe in der Sperrzone von Tschernobyl seit dem Reaktorunglück im Jahr 1986. Dabei geht es unter anderem um die geochemische Modellierung der Wechselwirkung von Schadstoffen mit Mineraloberflächen. Bodenminerale, wie etwa Ton, Quarz oder auch Eisen, besitzen sogenannte reaktive Oberflächen, an die sich organische Substanzen und Nährstoffe binden. Das schützt die Minerale vor einem zu schnellen Abbau oder einer Auswaschung.

Was aber, wenn sich Schadstoffe an die Bodenminerale binden? Wohin könnten sie transportiert werden? Womöglich in bewohnte Gebiete? „Das ist für uns eine sehr interessante Frage, und sie spielt nicht nur bei radioaktiven Schadstoffen eine Rolle“, führt Brendler aus. Deshalb soll in der Doktorarbeit nun auch thematisiert werden, ob sich Iarmoshs Modelle auch auf andere grundwassergefährdende Abfallstoffe ausweiten ließen, beispielsweise auch auf Schwermetalle.

Partikelbewegung im Modell

Um ihre Modelle mit den notwendigen Daten füttern zu können, brauchte sie unbedingt Zugriff auf Material, das auf einem Server in Kiew liegt. Seit einigen Tagen funktioniert das. Felddaten zur Beschaffenheit eines Gebiets werden mit umfangreichen Informationen zu chemischen Reaktionen von Stoffen ergänzt. Kombiniert errechnet der Computer später, wie sich Partikel im Boden bewegen und welche Effekte das auf den Menschen haben kann.

In einem Jahr will Inna Iarmosh mit der Arbeit fertig sein. Was dann kommt? „Noch weiß ich nicht, wo ich die Doktorarbeit verteidigen kann“, sagt sie. Ob das in Kiew geht, ist unklar. An der TU Dresden vielleicht? „Da ist sie allerdings nicht eingeschrieben“, sagt Brendler. Aber irgendwie wird es klappen. Die Zuversicht nicht zu verlieren, das hat Inna Iarmosh schon in den vergangenen Monaten gelernt.