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Wo liegt der kälteste Ort Sachsens?

Ein Coswiger zweifelt am Kälterekord aus dem Jahr 1956. Als er 1929 zur Welt kam, war es noch eisiger, sagt er.

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© Arvid Müller

Von Ines Scholze-Luft

Coswig. Kommen Sie doch herein, sagt der schlanke ältere Herr freundlich und hilft dem Besuch aus dem Mantel. Dann geht es durch den Flur ins sonnige Wohnzimmer, das mit seinen hellen Möbeln modern und luftig wirkt.

Reinhard B. bittet zum Couchtisch. Dort liegt das Corpus Delicti – die SZ vom Mittwoch. Eiskalte Schönheit heißt es auf Seite 1 zum Bild einer jungen Dame mit einem Eisschollenstück in den Händen. Doch nicht das beschäftigt den 89-Jährigen. Sondern die Aussage im Text, dass Sachsens Kälterekord am 1. Februar 1956 in Marienberg gemessen wurde, minus 35,5 Grad.

Ein anderer Wert hat den Coswiger das ganze Leben begleitet: minus 36 Grad. So kalt war es am 12. Februar 1929 in Geringswalde bei Rochlitz, nahe Waldheim. Am Tag seiner Geburt. Zu jedem Geburtstag haben Großeltern und Eltern erzählt, ein bisschen kalt ist es um die Jahreszeit ja immer gewesen, aber als du zur Welt kamst, war es zehnmal kälter. Von gefrorenen Windeln auf dem Oberboden wurde berichtet.

Und Reinhard B. selbst ist heute noch beeindruckt, dass er als kleines Würmchen diese Kälte ausgehalten hat. „Ich hab’ für Rekorde was übrig“, sagt der lebhafte Coswiger. Für ihn als ehemaligen Sportler ist die gerade beendete Winterolympiade ein ganz großes Ereignis gewesen, sagt er. Und dass er glücklich ist, das miterlebt zu haben. Unsere Sportler haben viel geleistet.

Der Begeisterung folgt die Erinnerung an die eigenen Resultate. An den 100 Meter-Lauf in elf Sekunden: Hausrekord. An den Schlagballwurf über 70 Meter. An den Zehnkampf-Bezirksrekord in Karl-Marx-Stadt. Der Rückblick schließt die Jahre als Sportlehrer ein. Dieser Beruf ist sein Herzenswunsch. Eigentlich soll er Fleischermeister werden, wie Großvater und Vater in Geringswalde. Der leidenschaftliche Athlet hat anderes im Blick.

Darin bestärkt ihn seine aus Coswig stammende spätere Frau Helga. Die Lehrerin an der Berufsschule Geringswalde logiert 1950 bei seinen Großeltern und weiß, wie dringend Lehrkräfte gebraucht werden. Reinhard B. wird Lehrer für Deutsch und Gesellschaftskunde an der Betriebsberufsschule, studiert an der DHfK Leipzig, arbeitet dann 35 Jahre als Sportlehrer am Institut für Lehrerbildung in Rochlitz. 1994, als Rentner, ziehen die dreifachen Eltern in die Heimat von Frau Helga – auch wegen Tochter und Enkeln. Erst nach Kötitz, vor zwei Jahren in den Spitzgrund.

Das Thema Kälterekord hat Reinhard B. all die Jahre begleitet. In den Berichten seiner Familie über den Winter 1928/29 als den strengsten des vorigen Jahrhunderts. Und tatsächlich findet sich im Internet so mancher Hinweis, dass dieser Winter zu den intensivsten zählt, neben 1945/46. Über Geringswalde und die Rekordkälte dort gibt es dagegen nichts. Auch Reinhard B. kann den Rekord seines Geburtsortes nicht beweisen, fragt sich aber, weshalb das rund 70 Kilometer entfernte Marienberg als Rekordhalter genannt ist.

Aufschluss darüber kann Matthias Gnielka von der Klima- und Umweltberatung des Deutschen Wetterdienstes geben. Der Spitzenreiterposition Marienbergs auf der Kälteliste liegen alle bisher in der Datenbank vorhandenen digitalisierten Daten von sächsischen Stationen zugrunde. Wobei verschiedene Stationen zu verschiedenen Zeiten digitalisiert werden, sagt der Wetterexperte. Bis alles vollständig aufgearbeitet ist und die Papierarchive durchforstet sind, werde es noch Jahre dauern.

Schließlich gehe es ums Digitalisieren einer Riesenmenge historischer Daten deutschlandweit, zum Teil schon 1880 beginnend. Bisher seien in der Datenbank erst Informationen seit den 1950/1960er-Jahren vorhanden. Es könne also durchaus sein, dass sich auf dieser Grundlage mal herausstellt: In Geringswalde – wo es übrigens wieder eine Wetterstation gibt – war es kälter als in Marienberg.

Dass sein Geburtsort als Rekordhalter nicht ausgeschlossen ist, dürfte Reinhard B. freuen. Ebenso der gute Kontakt zu seiner Familie, zu der sechs Enkel gehören. Vor allem, seit seine Frau nicht mehr am Leben ist, hilft ihm das sehr. Ebenso wie die gute Betreuung durch die Volkssolidarität.