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Wovon wird Görlitz in zehn Jahren leben?

Derzeit kämpfen alle für den Maschinenbau und den Waggonbau. Zu Recht. Aber zu Anfang des Jahres stellen sich weitere Fragen.

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© Collage: N. Schmidt / J. Trenkler / Privat

Von Sebastian Beutler

Heute sind es nur noch 17 Kilometer. Ein Pappenstiel für den Siemens-Rad-Tross, der am Freitag in Görlitz startete. Bei Regen, Schnee, Kälte und Wind haben die 35 Teilnehmer nicht aufgegeben, um heute Vormittag pünktlich vor der Olympiahalle in München zu stehen, wo sich die Siemens-Aktionäre zur Hauptversammlung einfinden. Der Aktionärsverein, in dem die Siemens-Mitarbeiter ihre Anteile am Unternehmen gebündelt haben, soll von ihnen ein Zukunftspapier für den Görlitzer Standort erhalten, das der Betriebsrat erarbeitet hat. Unterstützt werden sie von weiteren rund 70 Siemens-Mitarbeitern aus Görlitz. Sie haben sich um null Uhr heute Nacht auf den Weg in Richtung bayerische Landeshauptstadt gemacht. Zuvor wurde der große Bus vom Unternehmen Menzel Busreisen zünftig ausgestattet.

Auch der Mittelstand engagiert sich für das Görlitzer Siemens-Werk. Ingo Menzel ließ seinen Bus umgestalten. Die Autohäuser Arndt und Klische stellten weitere Fahrzeuge, die Firma Brewes aus Markersdorf sponsorte die „Keep Görlitz alive“-Aufkleber.
Auch der Mittelstand engagiert sich für das Görlitzer Siemens-Werk. Ingo Menzel ließ seinen Bus umgestalten. Die Autohäuser Arndt und Klische stellten weitere Fahrzeuge, die Firma Brewes aus Markersdorf sponsorte die „Keep Görlitz alive“-Aufkleber. © Jens Trenkler

Hat Kaeser heute gute Nachrichten?

Natürlich hoffen alle, dass Siemens-Chef Joe Kaeser vielleicht schon heute den vagen Aussichten für das Görlitzer Werk, die er zuletzt beim Weltwirtschaftsforum in Davos äußerte, etwas Greifbareres folgen lässt. Ostsachsens IG-Metall-Chef Jan Otto erwartet, dass Kaeser die Schließungspläne vom Tisch nimmt. Wahrscheinlich ist das aber nicht, die Gespräche mit den Arbeitnehmern bei Siemens haben erst begonnen. Es könnte also sein, dass die Görlitzer Maschinenbauer noch eine Weile mit Trommelwirbel, Demonstrationen oder Rad-Korsos auf sich aufmerksam machen müssen. Immerhin haben sie zusammen mit der Politik erreicht, dass Siemens und Görlitz bundesweit in einem Atemzug genannt werden. Der Görlitzer OB Siegfried Deinege, der in unzähligen Interviews dazu beigetragen hat, wertete das bei seinem Neujahrsempfang als ersten Zwischenerfolg. Nun müssten die Verhandlungen erfolgreich bestritten werden. Was dabei herauskommt, ist völlig offen. Deinege legte sich fest: Egal, was Siemens künftig in Görlitz produziere, der Weltkonzern aus München müsse hier gehalten werden. Eine Minimalforderung ist das.

So viel Deinege derzeit im Land herumfährt, um für die Görlitzer Industrie zu kämpfen, so sehr müsste sich die Diskussion in Görlitz um eine Frage drehen, die möglicherweise der Görlitzer in der Dresdner Staatskanzlei, Ministerpräsident Michael Kretschmer, in seiner Regierungserklärung heute mit Leben erfüllen will: Wovon wollen wir in zehn Jahren leben? Es ist ja nicht nur die Unsicherheit um das Turbinenwerk, das 7 000 Görlitzer vor zehn Tagen auf die Straße brachte. Der Waggonbau steht zum Verkauf, die Kohle im Norden des Landkreises ist von verschiedener Warte umstritten. So stellt sich die Frage, wie der Wohlstand in den nächsten Jahren erwirtschaftet wird, drängender denn je. CDU-Kreisvorsitzender Octavian Ursu stellte diese Frage auch in den Mittelpunkt seiner Neujahrsansprache. „Es reicht definitiv nicht aus, nur schöne Kulissen für Hollywood und wunderbare Landschaften für den Tourismus anzubieten“, sagte er. „Wir werden gemeinsam an zukunftsfähigen Konzepten für große Arbeitgeber in der Region arbeiten und auch den Strukturwandel in der Braunkohleregion nicht nur politisch begleiten.“ Neue Betriebe müssten angesiedelt werden, angelockt von einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur. „Wir wollen in unserer Region moderne Technologien fördern und neu ansiedeln, gut bezahlte Arbeitsplätze erhalten und neue generieren.“

Antworten hatten viele schon im vergangenen Jahr erwartet, als Oberbürgermeister Siegfried Deinege mehrfach eine Wirtschaftskonferenz angekündigt hatte. Jedoch wurde die Konferenz so lange vertagt, bis sie gar nicht stattfand. Rolf Weidle, der Chef der Bürgerfraktion im Stadtrat, knüpft nun große Hoffnungen an eine Konferenz des Aktionskreises für Görlitz im November, fordert „eine solide Analyse“ der Lage und am Ende einen „Masterplan“. Selbst Weidle erwartet sich davon keine schnellen Antworten. Doch darauf warten die vielen Arbeitslosen. Görlitz hat auf diesem Gebiet die Rote Laterne in Sachsen inne. Die Arbeitslosenquote in der Stadt Görlitz von 13,6 Prozent im Dezember kam aber in keiner der Reden vor. Und damit auch nicht die Frage: Was muss geschehen, um die hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren – wo doch Hochkonjunktur herrscht. So verharrt die Arbeitslosigkeit in Görlitz auf hohem Niveau – ganz im Gegensatz zu Hoyerswerda und Weißwasser, die ähnlich schlecht einmal wie Görlitz gestartet waren und jetzt Quoten von 8,9 oder 8,3 Prozent aufweisen. Dabei ist es nicht so, dass keine Investoren in Görlitz anklopfen. Andrea Behr, Chefin der Europastadt Görlitz/Zgorzelec, berichtet von so vielen Anfragen wie seit langem nicht. Aus der Logistik, der Medizintechnik und der Autobranche. Aber zu einer nennenswerten Ansiedlung im verarbeitenden Gewerbe ist es in letzter Zeit nicht gekommen. Mit welchen Problemen die Wirtschaftsförderer konfrontiert sind, erzählte Deinege. So würde ein Investor sich in Görlitz ansiedeln, 500 bis 600 Stellen schaffen. Doch brauche er 30 Hektar Gelände – eine Fläche, über die die Stadt nicht verfügt. Deswegen verhandelt sie mit Landwirten. Doch die wollen ihr Land nicht verkaufen, höchstens tauschen. Nun versucht die Stadt, einen Tauschhandel einzufädeln: Das bisherige Land des Bauern für die Ansiedlung gegen eine andere Fläche für den Bauern. Ausgang offen.

Fachkräfte rar trotz Arbeitslosigkeit

Auch der Tourismus macht Mut. Frau Behr hofft, dass im vergangenen Jahr 300 000 Nächte in Görlitzer Hotels und Pensionen gebucht wurden, das wäre eine Verdopplung in zehn Jahren. Zwei Millionen Tagesgäste kommen noch hinzu. Am See eröffnet in diesem Jahr das erste Hotel, die Hochschule versteht sich als Partner der regionalen Wirtschaft, Senckenberg und der Landkreis investieren immens in die Stadt. Die IT-Branche entwickelt sich gut, mancher liebäugelt damit, dass sich Görlitz ähnlich wie Darmstadt zu einer digitalen Modellstadt aufschwingt. Doch Marko Modsching von der DSER, die für Banken Daten und Depots verwaltet und zuletzt ihren AG-Sitz nach Görlitz verlegt hatte, warnt. So habe sein Unternehmen nicht mehr in Görlitz wachsen können, weil es an geeignetem Personal fehle. Paradox angesichts der Arbeitslosenquote. Aber die Jobs von Modsching sind oft nichts für Langzeitarbeitslose. Deinege hält das Fachkräfteproblem für die Zukunftsaufgabe. Sie zu lösen, würde leichter fallen, wenn auch Siemens hochkarätige Jobs in Görlitz zu bieten hätte.