Von Jörg Stock
Weil im Juni in Wilschdorf bei Stolpen ein Storchenkind aus dem Horst fiel, rückte am ersten Juli-Sonntag in Pegau bei Leipzig die Feuerwehr an. Im Drehleiterkorb fuhr der Pechvogel aus der Sächsischen Schweiz zu seiner Adoptivfamilie hinauf auf den Schornstein der Pegauer Ziegelei. Der Altvogel kreiste lange, wohl eine Stunde, über dem Horst, in dem nun statt eines Jungen zwei saßen. Doch jetzt haben sich die Pegauer Adebars mit dem Neuen angefreundet, so meldet es der zuständige Bezirksstorchenbetreuer. „Alles gut!“



Szenenwechsel: zwei Männer von Pirnas Fachgruppe Ornithologie, ein Auto und ein Auftrag: Kontrolle rechtselbischer Storchenhorste. Die Naturschutzbehörde will Klarheit über die Bruterfolge. Für den Naturfreund Andreas Kunzmann ist der Storchensturz von Wilschdorf noch immer ein Rätsel. Die Altvögel hatten den Kleinen aus dem Nest gedrängt. Das tun sie nur bei Futtermangel. „Dabei haben wir ein Mäusejahr“, sagt er. Das verstoßene Storchenkind hatte jedenfalls einen guten Appetit, berichtet Uwe Bartling auf dem Beifahrersitz. Der Zoohändler, der in Pirna als Ziehvater verunglückter Vögel bekannt ist, päppelte den Storch zwei Wochen lang auf. Zuletzt vertilgte der pro Tag zwanzig Mäuse.
Wir stoppen auf einer Wiese am Doberzeiter Kohlberg. Der Horst ist einen halben Kilometer weit weg von hier. Nur schemenhaft sieht man ihn auf der Backsteinesse der Agrarproduktion „Zur Bastei“ thronen. Flink hat Uwe Bartling ein Dreibein aufgestellt und ein armlanges Rohr darauf montiert, ein leistungsstarkes Fernglas mit Digitalkamera, um die dreitausend Euro wert.
Andreas Kunzmann tritt an das Okular. „Eins … zwei … drei“, zählt er. „Ein schönes Bild.“ Ich gucke auch und staune. Die drei kleinen Störche sind so deutlich zu erkennen, als säßen sie vor der Linse. Sie haben schwarze Schnäbel, typisch für Storchenjunge. Damit putzen sie ihr Gefieder. Sie scheinen auf das Frühstück zu warten.
Das Nahrungsangebot ist entscheidend für den Bruterfolg der Weißstörche. Und daran mangelt es oft. Dabei sind die Tiere alles andere als Gourmets. Mäuse, Schlangen, Frösche, Heuschrecken, zur Not auch Regenwürmer – sie nehmen, was sie kriegen können. Hauptsache Biomasse. Doch eine Landschaft voller Raps und Mais kann dem Storch nichts bieten. Und Dauergrünland, das etappenweise gemäht wird und dabei immer neue Beutetiere freigibt, ist selten geworden.
Entdeckung auf dem Mühlenschlot
Am Ortsrand von Dittersbach. Auf der stillgelegten Eisenbahnlinie, die nach Radeberg führt, rostig und von Ahorn überwuchert, haben wir das Fernrohr aufgestellt und auf den Schlot der alten Papiermühle gerichtet, der zwischen zwei Fichtenzipfeln in der Ferne aufragt. Zur Kontrolle im Mai war hier nichts los. Und jetzt? Drei schwarz-weiße Federbüschel schauen über den Horstrand. Andreas Kunzmann freut sich riesig hinter seinem Vollbart. „Die hatten wir gar nicht auf dem Schirm“, sagt er. „Eine schöne Überraschung!“
Firma Brunnenbau Wilschdorf. Jetzt begreife ich, wie der Unglücksstorch überlebte: Die Esse, auf der das Nest liegt, ist dick mit Efeu umwunden. Die Ranken bremsten den Fall. Nach vierzehn Tagen Pflege bei Uwe Bartling brachten die Naturfreunde den Jungvogel zum Storchenhof Loburg in Sachsen-Anhalt. Und von da kam er auf den Pegauer Ziegelei-Schornstein zwecks Wiedereingliederung ins Storchenleben.
Doch hier in Wilschdorf ist überhaupt kein Storchenleben mehr auszumachen. So sehr wir auch unsere Hälse recken, der Horst ist leer. Sollten die Störche schon ausgeflogen sein? Eigentlich unmöglich, sagt Uwe Bartling. „Eigenartig.“ Andreas Kunzmann ist schon am Handy, um jemanden von der Firma zu erreichen, da winkt eine Flügelspitze über die Nestkante. Ein Schnabel taucht auf, und dann noch einer. Unser Palaver hat die Tiere wohl neugierig gemacht. Ein Blick durchs Superfernglas erleichtert die Naturburschen vollends. Der Nachwuchs sieht gut aus.
In Rennersdorf hantiert Bauunternehmer Johannes Thierse auf seinem Grundstück mit der Motorsense. Familie Storch guckt von der Spitze eines Strommasts unbeteiligt zu. Störche sind Kulturfolger. Sie haben sich an das Treiben der Menschen gewöhnt. Und Herr Thierse hat sich an seine Störche gewöhnt. Er hält es für ein gutes Zeichen, dass sich die Vögel bei ihm wohlfühlen. „Da funktioniert noch was in der Natur“, sagt er. Leider ist auch bei ihm ein Junges abgestürzt. Es hatte nicht so viel Glück wie der Wilschdorfer Storch. Das überlebende Junge präsentiert sich fit. Es wird wohl bald Mittagessen kriegen. Ein Altvogel stakst emsig pickend durch die nahen Wesenitzwiesen.
Rosalie kam mit den Störchen
Auf dem Gehöft Dierchen in Langenwolmsdorf kommen wir gerade recht zur Fütterung. Majestätisch, mit seinen rund zwei Metern Flügelspanne, schwebt der Elternstorch ein. Die Kleinen betteln. Es sieht beinahe so aus, als machten sie Knickse vor dem Altvogel. „Jetzt würgt er!“, ruft Uwe Bartling aufgeregt hinter seinem Fernrohr. „Da war eine Maus dabei!“ Im Feldstecher sehe ich dunkle Klumpen, die in schneller Folge in den Horst plumpsen, und ein gefiedertes Wuseln, das sich auf sie stürzt.
Trubel am Ortseingang von Polenz. Bei Familie Rentzsch und Schönfelder hat gerade die Katze entbunden, und nun sucht eine Kinderschar voller Eifer nach den Babys. Aber klar, auch die Störche sind eine Attraktion. Sie wohnen im Garten auf einem Eisenmast mit Wagenrad. Wenn sie im Frühjahr hier landen, sagt Mandy Schönfelder, ist die Freude fast so groß wie bei einer Geburt. Tatsächlich kam Mandys Tochter Rosalie genau an einem Storchenankunftstag zur Welt. Die Mutter lacht. „Die hat wirklich der Storch gebracht.“