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„Zeit ist nur eine imaginäre Grenze“

Der Dresdner Paul Schmidt war beim vieldiskutierten Marathon-Projekt eines Sportausrüsters live dabei – und Beobachter der Doping-Kontrolle.

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© dpa

Das in der Leichtathletik-Szene umstrittene Nike-Projekt „Breaking2“, also eine Marathon-Zeit von unter zwei Stunden, ist am Samstag auf dem Formel-1-Kurs im italienischen Monza knapp gescheitert. Bei dem Laborversuch unter freiem Himmel lief der kenianische Olympiasieger Eliud Kipchoge mit 2:00:25 Stunden dennoch eine Zeit, die die Fachwelt staunen lässt.

Paul Schmidt (31) ist gebürtiger Dresdner und arbeitet als Sportarzt an der Berliner Charité.
Paul Schmidt (31) ist gebürtiger Dresdner und arbeitet als Sportarzt an der Berliner Charité. © c by Matthias Rietschel

Der Sportmediziner Paul Schmidt aus Dresden – Marathonbestzeit 2:19:35 – hat das Rennen live am Streckenrand verfolgt. Im SZ-Interview erzählt er von seinen Eindrücken und sagt, warum die zwei Stunden irgendwann unterboten werden.

Herr Schmidt, Sie sind Sportler, vor allem Sportwissenschaftler und Arzt. Was ist Ihre Meinung zu dem Nike-Projekt?

Ich bin einige Marathons gelaufen und habe mir viele Rennen live angesehen, unter anderem Berlin und auch Boston. Doch Monza war das bislang Aufregendste, weil – und das muss man natürlich auch sagen – Nike das sehr gut in Szene gesetzt hat. Die zwei Stunden waren absolute Gänsehaut.

Von einer PR-Show ist die Rede. Können Sie diese Kritik verstehen?

Das ist natürlich eine Marketingveranstaltung, und man muss sich überlegen, ob man so etwas möchte. Doch mit Marketing für Sport kann ich schon mal besser leben, als wenn es um andere Dinge gehen würde. Wenn übrig bleibt, dass die Leute jetzt mehr laufen gehen und ein paar Talente noch mehr trainieren, ist das für mich als Arzt ethisch nicht verwerflich. Genau darum geht es doch am Ende: ethisch zweifelhaft oder nicht. Es war auf jeden Fall ein echtes Spektakel. Für drei Läufer ging es um die zwei Stunden, doch für alle anderen, die dabei waren, war es ein wahnsinniges Erlebnis – und nicht nur eine Zeit.

Warum waren Sie in Monza dabei?

Die Marketing-Abteilung von Nike, die zu großen Teilen in Berlin zu Hause ist, hat mich eingeladen – und das aus verschiedenen Gründen. Ich bin für sie Laufexperte, in Social-Media-Kanälen unterwegs und zudem Wissenschaftler. Darüber hinaus, das ist kein Geheimnis, ist Nike auch meine Schuhmarke, die ich persönlich gern trage.

Hatten Sie in Monza eine offizielle Aufgabe?

Zunächst nicht. Nike hatte in ein großes Lauf-Camp direkt neben der Laufstrecke viele Hobbysportler eingeladen, dazu Top-Athleten wie Allyson Felix, die erste Marathon-Olympiasiegerin Joan Benoit und die Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe. Dort war auch ich. Weil ich aber ein bisschen Ahnung von der Materie habe und offenbar auch etwas Glück, wurde ich ausgewählt, als einer von drei freiwilligen, unabhängigen Zeugen bei der Dopingkontrolle nach dem Marathon dabei zu sein.

Es gab eine Dopingkontrolle?

Ja. Im Vorfeld und auch jetzt im Nachgang ist geschrieben worden, dass dieses Thema unberücksichtigt blieb. Das stimmt aber nicht. Es fand eine reguläre Dopingkontrolle von der Anti-Doping-Agentur Italiens statt. Die ersten drei wurden ganz normal getestet. Ich kann bestätigen, dass es vorschriftsgemäße Kontrollen gab, und ich kann das als Verbandsarzt der deutschen Eisschnellläufer einschätzen. Auch in Sachen Dopingkontrolle wurden bei dem Projekt höchste Standards eingehalten. Daran gibt es nichts zu rütteln.

Mit welchem Eindruck kehren Sie zurück nach Deutschland?

Mit einem positiven – auch wenn ich natürlich beeinflusst bin durch die Emotionen. Das Projekt begann im Grunde genommen ja schon am Freitag auf dem Domplatz in Mailand mit einem Staffel-Event. Da wurden 1 000 mal 42 Meter gelaufen, unter anderem mit Carl Lewis und Italiens kompletter Leichtathletik-Szene. Neben dem ganzen Thema Rekorde und Leistungssteigerung war das Wochenende eine große Plattform, um Laufen an die Leute zu bringen. Und das ist den Veranstaltern ziemlich gut gelungen. Da kann sich die klassische Leichtathletik viel abgucken, obwohl es da jetzt auch neue Formate gibt – zum Beispiel mit Weit- oder Hochsprungwettkämpfen in den Innenstädten.

Haben Sie neue Erkenntnisse gewonnen, auch wissenschaftliche?

Besonders aus der sportwissenschaftlichen Sicht ist das Projekt interessant – und sehr gut umgesetzt worden. Um einen offiziell gültigen Weltrekord ging es Nike gar nicht. Sie haben getestet, was Eliud Kipchoge unter möglichst perfekten Bedingungen leisten kann. Er sollte also vorher normal trainieren und auch auf Asphalt laufen wie bei den Straßenmarathons. Doch alles, was stört, wurde so weit wie möglich minimiert: zu viele Kurven, schlechtes Wetter. Auf der Strecke im Autopark Monza, der für seine sauerstoffreiche Luft bekannt ist, sind zudem nur Elektro-Autos gefahren. Am Ende wurden 2,1 Prozent an Leistungsverbesserung rausgeholt, die sich jeweils zur Hälfte auf den neuentwickelten Laufschuh sowie die Bedingungen zurückführen lassen. Wenn es beispielsweise heißer wäre, laufen alle langsamer.

Warum haben am Ende trotzdem 25 Sekunden gefehlt?

25 Sekunden sind gar nichts, wenn man bedenkt, dass die Tagesform eine wichtige Rolle spielt. Und als Marathonläufer hat man nun mal nicht so viele Chancen wie ein 100-m-Sprinter. Generell ist es ohnehin ganz schwierig, bei austrainierten Top-Athleten überhaupt noch mehr herauszuholen. Da helfen Änderungen kaum noch. Insofern ist es Nike doch gelungen, etwas Besonderes zu schaffen. Und eines ist sowieso klar: Wenn sehr viel Geld in eine Sportart gesteckt wird, verbessern sich die Leistungen – auch ohne Doping. Das sehen wir immer bei den Gastgeberländern der Olympischen Spiele.

Ist eine Marathon-Zeit unter zwei Stunden möglich?

Ja, auf jeden Fall. Zeit ist nur eine imaginäre Grenze.

Wird es also einen neuen Anlauf geben?

Hoffentlich, ich würde gern noch mal so etwas erleben. Ich frage mich aber, wie lange es die Rekordjagd bei Straßenmarathons noch geben muss, zumal die Bedingungen nicht vergleichbar sind. Warum werden Straßenmarathons allein nach der Zeit bewertet und nicht am Erlebnis oder auch dem Zweikampf zweier Athleten? Unter Laborbedingungen sind Rekordjagden okay, bei Straßenläufen sollte der Wettkampf im Vordergrund stehen.

Das Interview führte Tino Meyer.