Zittauerin lebt nicht wegen Schokolade in Belgien - sondern wegen der Kühe
Es gibt vielfältige Gründe für eine Reise nach Belgien. Kulinariker denken dabei sofort an Schokolade, für die das Land berühmt ist, oder an leckere Waffeln und knusprige Fritten. Andere zieht es in das „Venedig des Nordens“, wie Brügge, die schönste Stadt Flanderns, genannt wird. Deren historischer Stadtkern wurde von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.
Christina Hähne hatte weder das eine noch das andere im Sinn, als sie das erste Mal nach Belgien kam. Anlass ihrer Reise war eine lange gereifte Herzentscheidung. „Ich war unzufrieden mit meinem Bürojob. Damals schwor ich mir, in meinen geliebten Kuhstall zurückzugehen, sobald die Kinder außer Haus wären“, verrät die gelernte Rinderzüchterin.
„Die Liebe zu diesen Tieren wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Ganz im Gegenteil“, stellt die Zittauerin lachend klar und erzählt, dass ihr als Stadtkind die großen Kühe eher Angst gemacht hätten. Viel lieber wäre sie Friseuse geworden als Rinderzüchterin. Doch mit einer 3 in Chemie hatte sie keine Chance auf einen der begehrten Ausbildungsplätze, denn 1966 stand dieser Berufswunsch auf Platz 1 der Hitliste, sodass 9 Bewerberinnen um eine Lehrstelle konkurrierten.
Einen Plan B gab es nicht. Als ihr eine Freundin aus Olbersdorf erzählte, dass die LPG „Glück auf“ Lehrlinge suchte, bewarb sich Christina, die damals noch Jogwick hieß, - ohne Lust und Ambitionen. „Es war schwierig für mich, überhaupt einen Draht zu den Tieren zu bekommen“, erzählt die zierliche Frau, die nie geglaubt hätte, dass ihr diese so schnell ans Herz wachsen würden. Gern erinnert sich die Rinderzüchterin an ihre Erfahrungen in den Kuhställen bei Pethau und in Oberseifersdorf. Schnell lernte sie, mit den Kühen umzugehen und wusste bald, dass sich die gutmütigen Wiederkäuer entspannen, wenn man sie sanft am Bauch massiert oder hinter den Ohren krault und dabei leise mit ihnen spricht.
Schweren Herzens musste die Mutter von 5 Kindern 1986 ihren geliebten Beruf aufgeben, da sich die Arbeitszeiten nicht mit einem geregelten Familienleben vereinbaren ließen.
Nach drei Tagen Probearbeiten Vertrag unterschrieben
In einem 3-jährigen Fernstudium qualifizierte sich die Oberlausitzerin zur Kindergärtnerin. Die erfüllende Arbeit in der Kindertagesstätte auf der Ziegelstraße war mehr als nur eine Notlösung. Als die Familie später nach Stendal umzog, musste sie noch einmal die Schulbank drücken, um Lohnbuchhalterin zu werden. Den Bürojob mochte sie nicht und die Sehnsucht nach der Arbeit im Kuhstall wurde allgegenwärtig.
Als es 2008 endlich so weit war, gab es die Kuhställe, in denen sie früher gearbeitet hatte, nicht mehr. Mit ihrem Profil meldete sie sich deshalb bei Gigajob an und freute sich über Zuschriften aus ganz Europa. „Zuerst rief ich dort an, wo Deutsch gesprochen wurde. Doch den Dialekt der bayrischen Landwirte verstand ich ebenso wenig wie den der Schweizer oder Österreicher“, gibt sie zu. Schließlich versuchte es die Oberlausitzerin im ostbelgischen St. Vith, aber mit wenig Hoffnung, weil sie meinte, dass dort nur Flämisch und Französisch gesprochen werde. Wider Erwarten begrüßte man sie auf Deutsch, denn die Region Eupen-Malmedy hatte zu Deutschland gehört, bevor das Gebiet mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages 1920 an Belgien fiel.
Nur eine Woche später stieg sie zuversichtlich ins Auto, um den Milchviehbetrieb der Gebrüder Lenges in Recht bei St. Vith kennenzulernen. Nach drei Tagen Probearbeit bei Lenges, unterschrieb Christina den Arbeitsvertrag, denn sie glaubte, in diesem Landwirtschaftsbetrieb das gefunden zu haben, was sie sich wünschte: nette Arbeitgeber, die ihre Kompetenzen zu schätzen wussten, und 186 Kühe, die auf sie warteten. Erst als Ihr Sohn Gordon zu Hause in Stendal ihren Computer abklemmte und ihre Sachen auf das Umzugsauto verladen wurden, kamen der damals 59-Jährigen Zweifel an ihrem Entschluss.
Gelungener Neustart
Doch der Neustart hätte nicht besser sein können. Mit Dankbarkeit erinnert sich die Deutsche an den freundlichen Empfang in Belgien. Sogar für eine bezugsbereite Wohnung hatte ihr Chef gesorgt und ein Auto der Firma stand bereit. Als man erfuhr, dass Gordon ebenfalls Arbeit suchte, wurde der gelernte Koch an ein gutes Restaurant nahe der Formel 1 Rennbahn in Spa vermittelt, das nur eine halbe Stunde vom neuen Wohnort der Mutter entfernt war. Mit Arbeitslust, viel Liebe zu den Tieren sowie einem großen Schatz an Erfahrungen brachte sich die Oberlausitzerin in den Arbeitsalltag des Milchviehbetriebs ein.
Fünf Jahre später zog sie mit ihrem Lebensgefährten Detlef in das nahe gelegene kleine Dorf Steffeshagen. „Das große Haus war der Grund für den Umzug. Der herrliche Garten mit dem Goldfischteich ist unser kleines Paradies, wo man sich fast wie im Urlaub fühlt“, schwärmt die Frau mit den kurzen blonden Haaren. Es sei echte Lebensqualität bei einer erschwinglichen Miete, betont die Rentnerin und meint, dass sie sich einen vergleichbaren Luxus in Deutschland nie hätte leisten können.
Von einem ins andere Dreiländereck
Die geografische Lage in einem Dreiländereck, von der die Bewohner auf vielfältige Weise profitieren, erinnert an die Oberlausitz. Während die Zugezogene günstige Lebensunterhaltskosten in Belgien genießt, fährt sie zum Tanken ins nahe Luxemburg und manche Lebensmittel kauft sie in Deutschland.
Eine einzigartige Natur mit Hochmooren und Wasserfällen wartet im Nationalpark „Hohes Venn“ bei Eupen darauf, erkundet zu werden. Neben alten Burgen und Schlössern zeugen viele Denkmäler von der Geschichte der Grenzregion, durch die einst die Wege der Römer führten. 1794/95 wurde das Gebiet von Frankreich erobert und fiel nach Napoleons Niederlage 1815 an Preußen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Eupen-Malmedy-St. Vith Belgien zugesprochen.
Traurige Berühmtheit erlangte der Landstrich nicht nur durch die im Januar 1945 gescheiterte Ardennenoffensive der Deutschen Wehrmacht, die zu den verlustreichsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges zählt, sondern auch wegen des Malmedy-Massakers, bei dem die Waffen-SS 82 amerikanische Soldaten erschoss. Damals wurde St. Vith dem Erdboden gleichgemacht.
Christina Hähne mag ihre freundlichen Nachbarn, welche dieselbe Sprache sprechen wie sie. Sogar der König würde in seine Reden immer ein paar deutsche Sätze einbauen, um der deutschsprachigen Gemeinschaft Respekt zu zollen, lässt sie wissen.
Die 73-Jährige fühlt sich wohl im Herzen Europas, wo sie dank der hervorragenden Infrastruktur nur einen Katzensprung von Brüssel, Aachen oder Paris entfernt ist. Doch Reisen gehören für die rüstige Rentnerin nicht zum Alltag, denn ihr Weg führt sie noch immer dreimal wöchentlich in die moderne Melkanlage im Familienbetrieb Kaut. Sich zur Ruhe setzen, könne sie sich derzeit nicht vorstellen, sagt die Oberlausitzerin, denn die Nähe zu ihren Kühen würde sie dann vermissen.