Von Marcus Krämer
Wenn man so will, kam dieser Willy Brandt am 11. März 1933 in Dresden zur Welt. In einer Gaststätte im Ortsteil Alttrachau fand an jenem Wochenende der Parteitag der Sozialistischen Arbeiterpartei statt. Es war ein geheimes Treffen, denn kaum waren die Nazis ein paar Wochen zuvor an die Macht gekommen, wurde die SAP verboten und verfolgt. Manch einer legte sich in dieser Zeit einen Decknamen zu. So auch ein gewisser Herbert Frahm, 19 Jahre alt, Journalist aus Lübeck. Getarnt mit der Mütze eines Oberprimaners, reiste er mit der Eisenbahn über Berlin an. Für den Besuch in Dresden gab sich der junge Mann zum ersten Mal jenen Namen, den er für den Rest seines Lebens behalten sollte und mit dem er später weltberühmt wurde: Willy Brandt.
100 Jahre Willy Brandt
Heute sind nach diesem Namen nicht nur etliche Straßen und Plätze in Deutschland benannt, sondern ebenso Schulen und Kindergärten sowie die SPD-Parteizentrale in Berlin. Zu seinem hundertsten Geburtstag, den er dieses Jahr am 18. Dezember gefeiert hätte, ist natürlich eine Sonderbriefmarke erschienen. Auch der neue Flughafen Berlin-Brandenburg trägt seinen Namen. Doch wenn Willy Brandt mit diesem unseligen Bauprojekt tatsächlich etwas gemeinsam hat, dann allenfalls dies: Größe und Scheitern liegen manchmal eng beieinander.
Willy Brandt, das sollte ein möglichst unauffälliger Allerweltsname sein, gewöhnlich und volkstümlich. Aber auch ein heldenhafter „Nom de Guerre“, ein Kampfname, mondän und einprägsam, als hätte der 19-Jährige schon damals geahnt, dass er einst in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Tatsächlich: In Dresden trat er 1933 nicht nur zum ersten Mal mit diesem Namen auf den Plan, wie er in seinen Erinnerungen schreibt. In Dresden wurde auch das Schicksal des jungen Sozialisten besiegelt. In gewisser Weise begann hier dessen einzigartige politische Lebensgeschichte.
Das sagen Prominente über Willy Brandt
Auf dem SAP-Parteitag in Alttrachau heckten die Verfolgten Pläne für den Kampf im Untergrund aus. Der sollte auch vom Ausland aus organisiert werden.
Organisation des Widerstands aus dem Exil
In Dresden beschloss man, ein Büro der SAP in der norwegischen Hauptstadt Oslo zu errichten. Zunächst sollte diese Außenstelle Paul Frölich leiten, ein sächsischer Publizist und Herausgeber der Werke Rosa Luxemburgs. Doch er wurde auf der Flucht nach Norwegen verhaftet. So fiel die Wahl auf Willy Brandt. Er sollte nun den Widerstand der SAP von Oslo aus unterstützen.
Zwölf Jahre lang, bis zum Ende des Krieges, lebte Willy Brandt in Skandinavien, zunächst in Oslo, nach der Besetzung Norwegens 1940 in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Diese Zeit im nordischen Exil hat ihn bis an sein Lebensende geprägt. Das gilt auch für sein politisches Weltbild: Aus dem Sozialisten wurde hier endgültig ein Sozialdemokrat. Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten waren ihm ein Beleg dafür, dass Freiheit und Gerechtigkeit keine Gegensätze sein müssen. Ein „demokratischer Sozialismus“ war sein Ideal.
„Die Freiheit“, sagte Brandt, „ist das Wichtigste.“ Der konservative Muff der Adenauer-Bundesrepublik war ihm zuwider, aber erst recht das spießige SEDRegime in der DDR. Als er Bürgermeister im geteilten Berlin war, schimpfte er über die „Gauleiter“ im Osten: „Recht und Gerechtigkeit haben sich noch nie auf Dauer unterdrücken lassen!“ Doch beim Bau der Mauer 1961 musste er als Bürgermeister machtlos zusehen.
Kaum ein anderer Politiker im Westen erlebte ein politisches Schicksal, das so eng verknüpft war mit dem sozialistischen Ostblock. Und kaum ein anderer hat das deutsch-deutsche Schicksal so sehr mitgestaltet. Schon in seiner Berliner Zeit ersann er die „Politik der kleinen Schritte“ und den „Wandel durch Annäherung“. Später, als Außenminister und ab 1969 als Kanzler, entwickelte er daraus seine berühmt gewordene „Neue Ostpolitik“. Für diese erhielt er 1971 den Friedensnobelpreis. In der Begründung hieß es, Willy Brandts Entspannungspolitik habe „einen Wandel von der Konfrontation zur Kooperation zwischen Osteuropa und Westeuropa“ vorbereitet.
Erster Kanzler im Osten
Brandts Regierung erkannte die DDR als eigenständigen Staat an. Als erster Bundeskanzler reiste er 1970 zum Staatsbesuch über die innerdeutsche Grenze. In Erfurt jubelten ihm die Massen zu, riefen im Chor seinen Namen vor dem Hotel „Erfurter Hof“. Die Situation drohte zu kippen. Doch Brandt, ganz Diplomat, ließ sich nur einmal kurz am Fenster blicken und hob für einen Moment die Hand, halb winkend, halb beschwichtigend. Wenn es ein Bild gibt, das Willy Brandts Lebensleistung zum Ausdruck bringt, dann ist es diese winzige Geste. Vielleicht auch deshalb, weil sie nicht ganz so deutlich ist wie das andere berühmte Bild: der Kniefall in Warschau 1970, vor dem Denkmal des jüdischen Getto-Aufstandes.
Im Osten genoss Brandt mehr Anerkennung als die meisten westdeutschen Politiker, auch wegen seiner Jahre im Exil und wegen seines antifaschistischen Widerstands während der Nazizeit. Im Westen hingegen gab es manche Versuche von politischen Gegnern, den ersten SPD-Kanzler mehr oder weniger direkt als Vaterlandsverräter zu verunglimpfen. Der CDU-Kanzler Adenauer nannte ihn mehr als einmal andeutungsvoll „Herrn Brandt alias Frahm“. Das konservative Lager misstraute auch Brandts Ostpolitik und seiner Entspannungshaltung gegenüber den kommunistischen Erzfeinden.
Ausgerechnet die Stasi war es dann, die sowohl an Brandts größtem politischen Triumph als auch an seiner größten Niederlage ihren Anteil hatte. Sein Triumph war 1972 der überraschende Ausgang eines Misstrauensvotums im Bundestag gegen ihn als Kanzler. Alle, auch Brandt, hatten damit gerechnet, dass er abgewählt würde. Denn zwei Abgeordnete hatten zuvor schon das Lager gewechselt, mit weiteren Abweichlern beim Koalitionspartner FDP war zu rechnen. Es wäre das Ende der sozialliberalen Regierung gewesen. Doch Brandt gewann die Abstimmung. Und bei den Neuwahlen im selben Jahr fuhr die SPD ihren bislang größten Wahlerfolg ein.
Das Einmischen der Stasi und der Fall
Erst später stellte sich heraus, dass offenbar manche Abgeordnete vor der Abstimmung bestochen worden waren. Ein CDU-Politiker gab ein Jahr später zu, er habe 50.000 Mark von der SPD für seine Stimmenthaltung bekommen. Was jedoch damals noch niemand ahnte und wohl eine Staatskrise ausgelöst hätte, wenn es bekannt geworden wäre: Offenbar hatte bei diesem Bestechungsskandal auch die Stasi ihre Finger im Spiel, wie man heute aus den Akten weiß. Das SED-Regime wollte mit allen Mitteln verhindern, dass Brandt als Kanzler gestürzt wird. Ungeklärt bleibt, wie und wo genau damals Geld geflossen ist. Als sicher gilt, dass Brandt von alldem nichts wusste.
Nur zwei Jahre nach diesem teuer erkauften Triumph kam der große Fall – und wieder war es die Stasi, die ihre Strippen gezogen hatte. Einer der engsten Mitarbeiter im Büro des Bundeskanzlers, Günter Guillaume, wurde 1974 vom Verfassungsschutz als Spion der DDR enttarnt. Für Brandt war das der Anlass zum Rücktritt, auch wenn die Ursachen tiefer lagen: Amtsmüdigkeit und körperliche wie geistige Erschöpfung im Kampf gegen politische Gegner, auch in der eigenen Partei. Angebliche Affären mit anderen Frauen belasteten ihn zusätzlich. Markus Wolf, der den Auslandsnachrichtendienst der Stasi leitete, bezeichnete es später als seine „größte Niederlage“, dass Brandt ausgerechnet durch den enttarnten DDR-Spion gestürzt wurde.
Trotz dieser Peinlichkeiten blieb Willy Brandt auch nach seinem Rücktritt so beliebt wie ganz wenige deutsche Politiker vor oder nach ihm. Sein Biograf Gregor Schöllgen erklärt es sich so: „Dass man nicht immer siegen muss, dass man verletzbar und voller Widersprüche sein darf, dass man Niederlagen erleiden und unter sich und anderen leiden kann, ohne das ,Herz des Volkes‘ zu verlieren, ist das denkwürdige Vermächtnis des Willy Brandt.“ Der Fotograf Robert Lebeck, der viele Politiker genau beobachtet hat, nimmt Brandt vor seinen größten Verehrern in Schutz: „Dieser knorrige, zutiefst rechtschaffene Sozialdemokrat wurde ziemlich überschätzt. Alle sahen in ihm den großen Visionär und Lenker – nur er selbst nicht. Seine sphinxhafte Introvertiertheit diente ihm als Schutzschild gegen die hohen Erwartungen seiner Anhänger.“
Kanzler gemessen am Erfolg
Brandt war kein taktisch versierter Krisenmanager wie sein Nachfolger Helmut Schmidt. „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, hat dieser mal gesagt. Aber Brandt wurde eben Kanzler in einer Epoche, als Leitsätze wie sein berühmter Ausspruch „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ durchaus mehr waren als bloße Lippenbekenntnisse. Dazu gehört auch sein Zitat: „Wir sind keine Erwählten, wir sind Gewählte.“ Willy Brandt war Kanzler in einer Zeit, in der man politischen Erfolg nicht nur an Bruttoinlandsprodukt, Wechselkursen und Arbeitslosenquote maß.
Zu diesen nicht mit Tabellen erfassbaren Erfolgen zählt auch die letzte große Sternstunde im Leben des Sozialdemokraten: die deutsche Wiedervereinigung. In den Tagen des Freudentaumels im Herbst 1989 sagte er vor dem Brandenburger Tor in Berlin seine berühmten Worte: „Jetzt sind wir in einer Situation, in der zusammenwächst, was zusammengehört.“
Dass ausgerechnet die Enkelgeneration in seiner Partei einer entschlossenen Vereinigung skeptisch gegenüberstand, hielt er für geschichtsvergessen. Es trübte auch sein Verhältnis zu Oskar Lafontaine, den er einst unterstützt und gefördert hatte. Trotz aller Euphorie behielt Brandt auch nach diesem historischen Sieg all dessen, wofür er sein Leben lang gekämpft hatte, den Sinn für diplomatische Behutsamkeit. Bei einer seiner letzten großen Reden im Februar 1992 im Dresdner Schauspielhaus sagte der 78-Jährige: „Ich hüte mich, den Stab über Landsleute zu brechen, die in die Maschen des Unrechtsregimes verstrickt wurden und es nun nicht leicht haben, Vergangenes auf anständige Weise hinter sich zu bringen.“
Zugleich warnte er vor falschen Erwartungen. Er fasste das in seiner Dresdner Rede mit einem knappen Satz zusammen, der auch als Motto über Brandts gesamtem Leben und Wirken stehen könnte – acht Worte, die erklären, was ihn trotz allem immer angetrieben hatte, als Antifaschisten während der Nazizeit, als Bürgermeister im geteilten Berlin, als Kanzler im Kalten Krieg, als Vorsitzenden einer nicht immer ganz einfachen SPD, schließlich als lebende Legende im wiedervereinigten, aber schon wieder nörgelnden Deutschland. Diese acht Worte lauten: „Das Ja hat vor dem Aber zu stehen!“
Buchtipps
Zum 100. Geburtstag Willy Brandts erscheint die Biografie des Historikers Gregor Schöllgen in erweiterter Auflage, Berlin-Verlag, 336 S., 19,99 Euro.
Eine neue Brandt-Biografie hat der Journalist HansJoachim Noack geschrieben, Rowohlt, 352 S., 19,95 Euro.