Von unserem KorrespondentenUlrich Heyden, Grosny
In der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien haben die Bürger gestern über eine neue Verfassung abgestimmt. Sechs Stunden nach Öffnung der Wahllokale habe sich die Hälfte der Wahlberechtigten an dem umstrittenen Referendum beteiligt, teilte die prorussische Verwaltung mit. Damit ist die Volksabstimmung gültig. Zu den 540 000 Stimmberechtigten gehörten auch 38 000 russische Soldaten.
In der Bevölkerung hat man zu der Abstimmung zwiespältige Gefühle. Kreml-Chef Putin wandte sich Anfang der Woche in einer Fernsehansprache an die Tschetschenen und warb für die Teilnahme an der Abstimmung. Nach der Annahme der Verfassung werde man einen Vertrag über eine weitreichende Autonomie der Kaukasusrepublik ausarbeiten.
Für Natalja Estemirowa, Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial in Grosny, hatte die Rede des Kreml-Chefs etwas von absurdem Theater.
Grosny ist noch immerein Bild des Schreckens
Warum, fragt sich die ehemalige Geschichtslehrerin, wendet sich der Präsident eines großen Landes mit Problemen ans Volk, für die er selbst die Verantwortung trage? So beschäftigten sich die russischen Soldaten an den so genannten Blockposten vor allem mit dem Eintreiben von Wege-Zoll, anstatt für Sicherheit zu sorgen.
Die Stadt ist immer noch ein Bild des Schreckens. Neue Straßenschilder wurden angebracht und die Verwaltung beginnt, Trümmer beiseite zu räumen. Doch bisher gibt es kaum Wohnraum. 250 000 Menschen hat der russische Präsident Entschädigung für zerstörten Wohnraum versprochen. Doch die Tschetschenen sind skeptisch, ob das Geld jemals zu den Betroffenen gelangt. Die Menschen, die jetzt in die einst blühende Stadt zurückkehren – angeblich hat Grosny schon wieder über 100 000 Einwohner – richten sich zwischen den Trümmern ein. Von den Balkonen, in denen große Einschusslöcher klaffen, hängt frisch gewaschene Wäsche.
Vor den mit russischen und tschetschenischen Flaggen geschmückten Wahllokalen standen gestern schwer bewaffnete tschetschenische Polizisten in grauen Tarnanzügen und schwarzen Wollmützen. Offenbar befürchtete man Anschläge der Rebellen. Der bisherige Präsident und Rebellenführer Maschadow hatte angeordnet, das Referendum zu ignorieren. Tatsächlich ist es in Grosny jetzt erstaunlich ruhig.
Für die Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa klingen die offiziellen Parolen wie ein Ultimatum. „Referendum heißt Frieden, verspricht man uns. Und wenn man nicht zum Referendum geht, heißt das dann, man ist für Krieg?“ Von einer freien Abstimmung könne keine Rede sein. Die örtliche Verwaltung habe Wählerlisten erstellt und könne kontrollieren, wer zur Abstimmung geht und wer nicht. Illoyales Verhalten, fürchten viele Tschetschenen, wird mit neuen „Säuberungsaktionen“ und Verhaftungen bestraft. Auch in den Flüchtlingslagern im benachbarten Inguschetien sollen die Menschen abstimmen. Die Lager-Verwalter werden angewiesen, für eine hohe Wahlbeteiligung zu sorgen.
Die Umstände, unter denen das Referendum stattfindet, sind zweifelhaft. Wohl deshalb hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates keine Beobachter geschickt. Die Meinungen in Grosny sind gespalten. „Was haben wir für eine andere Wahl“, fragt eine Frau resigniert. „Ich möchte wissen, was das für ein Gesetz ist, welches den Polizisten erlaubt, unsere Männer mitzunehmen und nicht zu sagen, wo man sie gefangen hält“, will die Nachbarin wissen. 2 800 Menschen werden zurzeit vermisst.
Die Staatsanwaltschaft sei informiert, aber gegenüber den russischen Militärs offenbar völlig hilflos. Die Zahl der „Säuberungsaktionen“, bei denen ganze Dörfer abgeriegelt wurden, sei zwar zurückgegangen, dafür nähmen aber die willkürlichen nächtlichen Verhaftungen unbekleideter Männer durch Masken-Männer zu.
Selbst die tschetschenische Polizei werde zunehmend Opfer von Gewaltaktionen. So seien am 4. März in Alchan-Jurt zwei tschetschenische Milizionäre von russischen Sicherheitskräften verhaftet worden. Am 10. März fand man ihre verstümmelten Leichen.